Von Hersbruck nach Rothenburg

Im Juni diesen Jahres bin ich auf dem Ostbayerischen und Mittelfränkischen Pilgerweg von Hersbruck nach Rothenburg ob der Tauber gelaufen, ca. 175 km in zwölf Tagen, vom Rand der Fränkischen Schweiz, durch den Nürnberger Südraum und die ehemalige Markgrafschaft Ansbach. Es war eine sehr intensive Zeit, die in mir immer noch nachwirkt.

Nun, zum Abschluss, noch einmal die Bilder der Reise auf einen Blick.

Die vollständigen Beiträge lassen sich – in umgekehrter Reihenfolge – hier abrufen.

 


Abschied von Rothenburg

Fast hätte ich das Bild vergessen, so lange scheint es nun schon zurückzuliegen. Ende Juni war ich nach meinem Pilgerweg in Rothenburg angekommen und hatte dort zeichnend noch zwei Tage verbracht. Es war – wir mögen es kaum noch glauben – sehr heiß und trocken gewesen, der Wind blies scharfkantigen Karststaub über die Felder, so dass der erste Regen nach Wochen sehnsüchtig erwartet wurde.

Als er dann kam, am späten Nachmittag meines letzten Tages in Rothenburg, waren alle Japaner schnell in ihre Hotels geflüchtet, die Schulklassen in die Jugendherberge, und ich hatte den Panoramaweg für mich allein. Es war ein magischer Moment; irgendwo in dem Steilhang versteckte sich ein verlassenes Kneippbecken, und ich platschte selig im Regen darin herum.

Nächstes Jahr wird es genau hier weitergehen; der Pilgerweg durchquert das Taubertal und verlässt dann Franken Richtung Württemberg.

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Blick auf Rothenburg o.d.T. im ersten Regen nach langer Trockenheit Ende Juni. Ich habe die Zeichnung vor Ort begonnen, auch schon koloriert; die Farbe dann zu Hause vertieft und ergänzt. Dabei kam zum ersten Mal das neue Perylengrün von Schminke zum Einsatz.


Hinter Schloss und Riegel

Nach zwölf Gehtagen habe ich mein Ziel erreicht, ich bin in Rothenburg ob der Tauber angekommen. Die erste Zeichnung gilt – wie es sich für eine Pilgerin gehört – der Jakobskirche. Im Vergleich zum Trubel draußen ist es hier drinnen leer und still, dennoch ist es ein mehr musealer als spiritueller Ort. Was also zeichnen? Nach einigem Umsehen finde ich links neben dem Hauptaltar eine Sakramentsnische mit reichem Skulpturenschmuck aus Sandstein; teilweise ist die ehemals kräftig farbige Bemalung gut zu erkennen. Die zahlreichen Details fordern mich auf, mir mit dem Zeichnen Zeit zu lassen, und ich komme der Aufforderung gern nach: schließlich habe ich sie ja, die Zeit, zwei lange Tage nur für Rothenburg.

Die linke Seite, die lavierte Federzeichnung der Skulptur des Johannes, entsteht weitgehend vor Ort; die Bleistiftzeichnung auf der rechten Seite überarbeite ich später mit wasserlöslichen Graphitstiften und etwas Wasserfarbe.

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Sakramentstür in der Jakobskirche von Rothenburg o.d.Tauber.

Dass es sich um eine Sakramentsnische handelt und was genau das ist, muss ich mir auch erst erlesen. Hinter der knapp mannshohen Tür mit eindrucksvollem „Schloss und Riegel“ bewahrte man im Hochmittelalter die geweihten Hostien auf. Nach damaliger Vorstellung – die in der katholischen Kirche bis heute fortdauert – ist in der geweihten („konsekrierten“ Hostie) Christus leibhaftig anwesend. Diese Hostien werden nicht nur als besonders verehrungswürdig angesehen, sie bedürfen auch eines Schutzes vor jeder Form von Entweihung. Besonders in jener Zeit, in der die dicke Sakramentstür entstand, erzählte man sich gruslige Geschichten über Menschen, die Hostien entweihten und für ihre eigenen magischen oder finsteren Zwecke missbrauchten.

Beim Zeichnen – auch später zu Hause noch – habe ich viel Zeit, über die Eucharistie, die „Danksagung“ nachzudenken, über die Anwesenheit des Heiligen, über den Unterschied zwischen Körper und Leib, über Symbole und Zeichen … Das Bildprogramm konnte ich nur zum Teil entschlüsseln. Johannes – der wohl eine Art Hybrid aus Johannes dem Täufer und Johannes, dem Autor der Offenbarung, ist – verweist auf den kommenden Christus, der in Gestalt eines Lammes auf einer großen Hostie abgebildet ist. Die Frau auf der rechten Seite trägt eine – nicht mehr vollständig erhaltene – Krone, in der Hand hält sie einen Abendmahlskelch, in dem sich ebenfalls eine Hostie befindet. Ihr offenes Haar weist sie als Jungfrau aus. Von mir nicht abgebildet, steht ihr auf der anderen Seite der Nische eine Frau mit einem Salbgefäß gegenüber. Krone und offenes Haar könnten an Maria denken lassen, doch wäre die Darstellung mit Kelch und Hostie sehr ungewöhnlich. Vielleicht bekomme ich es noch heraus.


Wegrand II – in der Diaspora

Zwei meiner „Wegrandpostkarten“ – eher schnellen Skizzen, die ich weitgehend vor Ort fertig stelle – zeigen moderne Kirchenarchitektur. Beides sind katholische Kirchen. Auf meinem Weg habe ich gelernt, dass Mittelfranken, obschon im Freistaat Bayern gelegen, evangelisches Kernland ist; seinerzeit geprägt durch die Freien Reichsstädte, die das neue Gedankengut anzogen und in denen sich viele Anhänger der protestantischen Lehre sammelten. In Nürnberg wurde gedruckt, was im gesamten deutschen Sprachraum für die Verbreitung lutherischen Gedankenguts sorgte.

Erst mit den Wanderungsbewegungen der Industrialisierung kamen wieder Katholiken in die Gegend; richtig viele wurden es nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele der Flüchtlinge aus dem Sudetenland hier blieben. In den 50er Jahren hatten sich die Verhältnisse soweit stabilisiert, dass an Kirchenneubau gedacht werden konnte. Die meisten dieser Kirchen vermitteln auf eine eindringliche Weise die Stimmung jener Jahre: sie sind karg, manchmal geradezu ärmlich, und ihr Bildschmuck verweist auf Sühne und Leid – wie gebaute Romane von Böll, nur weniger poetisch.

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St. Nikolaus in Wendelstein, Postkarte A6, gezeichnet am frühen Morgen.

Gezeichnet habe ich dann woanders. Das erste Bild zeigt St.Nikolaus, einen modernen Kirchenbau in Wendelstein, im zersiedelten Nürnberger Speckgürtel. Früh vor sieben, als ich dort entlangkam, war natürlich noch alles geschlossen, so dass ich mich mit dem äußeren Eindruck einer, nun ja, Fabrikarchitektur mit einigen farbigen Akzenten zufriedengeben musste. 70er? 80er? Auf der Website der Kirchgemeinde war nichts zur Baugeschichte zu finden.

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Glaswand der Werktagskirche der katholischen Kirche von Nürnberg-Reichelsdorf. Postkarte.

Die „Heilige Familie“ in Nürnberg-Reichelsdorf hingegen war eine fast atemberaubende Überraschung, wenn ich mich beim Zeichnen auch auf einen Ausschnitt aus der Glaswand der Werktagskirche beschränkt habe. Diese Kirche – gegründet irgendwann in den 20ern und erweitert in den 6oern – ist ein Beispiel für gelungene Architektur der Moderne, ein verborgenes Kleinod in der Provinz. Klare Formen, warme Holztöne und milchigweiches, grauhelles Licht, das durch eine ganze Wand aus Glas hineinkam, die sowohl öffnete als auch abschirmte.


Über die Wasserscheide

Von Häslabronn ist es nicht mehr weit bis nach Colmberg, dem nächsten Etappenziel. Nur noch eine Anhöhe, und ich überschreite eine so unscheinbare wie wichtige Grenze: die Große Europäische Wasserscheide zwischen Nordwesten und Südosten, Rhein und Donau, Atlantik und Schwarzem Meer. (Donau! sagt mein Herz.)

Ihr deutscher Anteil mäandert entlang diverser süddeutscher Hügelzüge, seit ein paar Jahren erlaufbar gemacht durch einen eigenen Wanderweg. (Der einige Kapitel zuvor erwähnte Ludwigskanal war ein früher Versuch, sie zu überwinden.)

In Colmberg saß ich dann – unter Umgehung des hochherrschaftlichen Burgrestaurants – bald sehr angenehm bei gutem fränkischen Essen vor dem „Schwarzen Adler“, genoss den frischen Wind – am nächsten Tag sollte er sich, immer noch ohne Regen, fast zu einem Sturm auswachsen und mir den Staub von zwei trockenen Monaten ins Gesicht blasen – und schaute dem Ortsleben zu.

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Eine sehr ländliche Tankstelle in Colmberg. Postkartenskizze am Mittag.

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Abends ist die Durchfahrtsstraße dann ruhig. Erst will ich nur Fachwerk zeichnen, dann wird es eine Übung in Perspektive und „nichts auslassen“ – Autos, Verkehrsschilder, Straßenlampen …


Häslabronn

Für Häslabronn macht der Mittelfränkische Pilgerweg einen Umweg, der sich lohnt. (Und auf dem mich passenderweise gleich ein hoppelnder Hase begrüßte.) Das Dorf hat 26 Einwohner in einer Handvoll vorbildlich renovierter Fachwerkhäuser, eine Schulbushaltestelle und – daher der Knick im Pilgerweg – eine Jakobskirche, die im Mittelalter einmal eine Wallfahrtskirche war. Das Kirchlein – und mit ihm das Dorf – wird von den Pilgern belebt und hat sich darauf eingestellt: eine freundliche Anwohnerin war, als ich ankam, gerade dabei, einen Kasten Mineralwasser hinzustellen, und ein paar hübsch kitschige Postkarten mit Pilgermotiven gibt es auch.

Gezeichnet habe ich am Ende, wie man sehen kann, die Bushaltestelle, nicht zuletzt, weil in passender Entfernung eine bequeme Bank stand. (Und es sich soweit abgekühlt hatte, dass ich nicht durch die Morgenkühle rasen musste.) Und, ach ja, als ich zu Hause nachlas, fand ich heraus, dass der Name Häslabronn von „Haselnuss“ kommt – wie gut, dass Hasen nicht lesen können.

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Der Schulbus ist vermutlich er einzige Bus, der das 26-Seelen-Dorf Häslabronn anfährt. Auf der linken Seite ein Ausschnitt aus einer Postkarte, die im Kirchlein auslag.


Fuchsgarten

Für zwei Tage bin ich vom Pilgerweg abgewichen, um mir Ansbach anzusehen. Ich hatte bei der Rückreise von der letzten Etappe die Stadt liegen sehen im Tal, mit ihren pittoresken gotischen Türmen wie aus einem Disneyfilm. Der Eindruck, aus der Nähe, täuscht: Ansbach ist eine Residenz gewesen (erinnert mich, von Größe und Anmutung, an Coburg, das ich zwei Jahre zuvor durchwandert hatte), eine von den vielen, die es in Deutschland gab, mit viel Barock und Park, mit geraden Straßen und viel zu großen Plätzen. Auch die von außen so spitzgotisch aussehenden Kirchen sind innerlich ganz und gar barockisiert.

In den Park, der hier Hofgarten heißt, ging ich am Abend, als die allgegenwärtige Hitze endlich etwas nachließ, und fand dort ein unerwartetes Kleinod: den „Fuchsgarten“, einen erst vor einigen Jahren sehr sorgfältig angelegten Kräutergarten zu Ehren des großen Botanikers Leonhart Fuchs.

Fuchs war, was man einen Renaissancemenschen nennt, ein Wissenschaftler, ein Forscher, ein streitbarer Verfechter von Reformation und hippokratischer Medizin; als Hochschullehrer ging er mit seinen Studenten auf botanische Exkursionen, und die Botanik war es auch, die ihn berühmt gemacht hat. In seinem „New Kreütterbůch“ beschrieb er an die 400 einheimische und zahlreiche importierte Pflanzen, manche, wie Paprika und Mais, zum ersten Mal in Deutschland. Das Buch ist nicht das Einzige seiner Art, doch mit seinen opulenten und ausgesprochen modern anmutenden Illustrationen vermutlich das Schönste. Dank eines (fast sittenwidrig preiswerten) Reprints aus dem Taschen-Verlag kann heute jeder diese Zeichnungen bewundern.

Dieses Buch zu betrachten, hilft auch gegen das verbreitete Narrativ von den in einem finsteren Mittelalter quacksalbernden Ärzten, in dem einzig ein paar von der Kirche verfolgte Kräuterfrauen den Menschen helfen konnten: Das hier gesammelte Wissen ist immens, und sind auch die Angaben zu „krafft und würckung“ der Pflanzen meist sehr breit gefasst, so können wir doch davon ausgehen, dass kundige und gebildete Ärzte sehr wohl für und gegen vieles ein Kraut kannten. Erst die Finsternis des Dreißigjährigen Krieges löschte große Teile dieses Wissens aus.

Fuchs’ Nachruhm überdauerte Jahrhunderte, Kirchen wurden nach dem Vorbild der Abbildungen seines Buches ausgemalt; und um 1700 benannte man die damals neu entdeckte Fuchsie nach ihm.

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Am Abend eines heißen Tages: das Gärtnerhaus im Leonhart-Fuchs-Garten in Ansbach


Ring ums Herz

Das Märchen vom Froschkönig ist eines der bekanntesten der Brüder Grimm. Doch wer erinnert sich an den Schluss? Der (im Übrigen durch Wandwurf und nicht durch Kuss) erlöste Prinz fährt mit seiner Prinzessin in der Kutsche heim, als es hinter ihnen kracht:

 „Heinrich, der Wagen bricht!“/ „Nein, Herr, der Wagen nicht,/ es ist ein Band von meinem Herzen,/ das da lag in großen Schmerzen,/ als Ihr in dem Brunnen saßt,/ als Ihr noch ein Fretsche wast.(Frosch wart)“

An diesen eisernen Reif ums Herz dachte ich, als ich den alten Taufstein in Großhaslach mit seinem Stahlring sah. Die Großhaslacher Kirche ist pilgerfreundlich hergerichtet mit einem Rastplatz, ein angenehmer Ort auf einem Hügel, luftig und freundlich, und neben der Kirche in der Bruchsteinkapelle steht der Taufstein. Wie alt er wirklich ist, weiß niemand – schon die Angaben in den ausliegenden Broschüren schwanken zwischen 800 und 1000 Jahren.

 Der Stein war auf dem Pfarrgrundstück vergraben und wurde, wiedergefunden, erst einmal viele Jahre als Blumenkübel „genutzt“, bis er in der Kapelle einen würdigen Platz fand. Die Granitschale hat einen Riss und ein Stück ist herausgebrochen. Vor einiger Zeit las ich ein Buch über alte Granittaufen in Mecklenburg, und der Autor kam zu dem erstaunlichen (und gut begründeten) Ergebnis, das diese Steine wohl schon lange vor der offiziellen „Christianisierung“ des Landes von christlichen germanischen Völkern mit von Rom unabhängigen sogenannten „Eigenkirchen“ geschaffen wurden. Mit der Unterwerfung durch Heinrich den Löwen wurden sie zu „Heiden“ erklärt und ihre Taufsteine zerstört, zumindest unbrauchbar gemacht.

Vielleicht hat der Großhaslacher Taufstein ein ähnliches Schicksal erlitten. Jetzt dient er wieder seinem ursprünglichen Zweck, in den Granit ist eine Messingschale für das Taufwasser eingelassen.

Ich habe in der angenehm kühlen Kapelle eine schöne, ruhige Stunde zugebracht, bevor es wieder in die fast absurde Hitze hinausging. Mutig habe ich auf stützende Tintenstriche verzichtet und den Stein nur mit Aquarellfarben abgebildet, die ich zu Hause noch ein wenig vertieft habe.

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Taufstein in der Großhaslacher Taufkapelle, Aquarell in S&B Beta


Heilsbronn

Zwanzig Kilometer südwestlich des Nürnberger Stadtrandes, wo der Speckgürtel schon in landwirtschaftlich geprägtes Irgendwo übergegangen ist, liegt das Städtchen Heilsbronn. (Nicht zu verwechseln mit Käthchens Heilbronn 100 km weiter westlich  und an die zwanzig Mal größer.)

Heilsbronn, das kleine, ist dennoch durch feine Fäden mit der Weltgeschichte verbunden. Im Mittelalter stand hier ein bedeutendes Zisterzienser-Kloster, ein regionales politisches Zentrum, dessen Mönche für das Seelenheil der ansässigen Adligen beteten, die dann auch in der Klosterkirche bestattet wurden – und wo so eine Grablege der Hohenzollern entstand, jenes Fürstengeschlechts, das später die preußischen Könige und die drei letzten Deutschen Kaiser hervorbringen würde.

Als ich an einem heißen Juninachmittag die Kirche betrete, verschlägt es mir den Atem, kurz schießen mir die Tränen in die Augen. Nach all den barockisierten gotischen Dorfkirchen, nach den modernen Gemeindezentren der Nürnberger Vorstädte ist der Raumeindruck überwältigend: reine Romanik, Hirsauer Reform, ein paar gotische Anbauten, alles Barocke und Spätere entfernt. (Von den Hohenzollerngräbern abgesehen, die, eingezäunt, ein Areal für sich bilden.) Und, womit ich nicht gerechnet habe, diverse hoch- und spätgotische Plastiken und Altäre, alle klug präsentiert in dem minimalistischen Raum.

Alles anzusehen, zu würdigen, womöglich zu zeichnen, bräuchte ich einen ganzen Tag. So bleibt es beim zeichnerischen Versuch, den Raum zu erfassen, und, am nächsten Morgen schon, einer fragmentarischen Skizze des Portals. Den Grundriss füge ich dann zu Hause an.

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Blick in das Mittelschiff der Heilbronner Klosterkirche. Perspektive und erste Schraffuren vor Ort, weiter ausgeführt und koloriert zu Hause. Die Schrift ist ein Versuch, im Stil einer karolingischen Minuskel zu schreiben.

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Am nächsten Morgen zeichne ich noch, fragmentarisch, das Hauptportal der Kirche.

 


Roßtal

Nachdem ich den Nürnberger Südraum Richtung Westen verlassen hatte, änderte sich die Landschaft: die Mischung aus weitläufigen Kiefernwäldern und Reihenhaussiedlungen wich einer leicht hügligen, landwirtschaftlich geprägten Gegend; mal großfeldrige Agrarsteppe, mal kleinteilige Kulturlandschaft mit Hecken und Bachläufen.

Der Marktflecken Roßtal war mein erstes Ziel auf diesem Wegabschnitt. Anders als der Name vermuten lässt, liegt der alte Ortskern auf einem steilen Hügel; ein uralter Siedlungsplatz und heute noch in seiner Struktur als Wehrkirchenanlage mit Mauer und Toren gut erkennbar. Innerhalb der Mauer befindet sich neben dem Pfarrhaus und einigen anderen Gebäuden der örtliche Friedhof, der somit in einer für uns heutige überraschenden Weise das Zentrum des Ortes bildet.

Auf diesem Friedhof pflegten – es war Sonntag Nachmittag – einige Anwohner die Gräber, eine Gruppe Radurlauber kehrte im Gasthof ein; ansonsten war es im sinkenden Nachmittagslicht vor allem eins: still. Nachdem ich mich ein bisschen umgesehen hatte, setzte ich mich auf eine Bank vor dem Rathaus, einem der Tore gegenüber, und begann zu zeichnen. Hier war, so schien es mir, die Zeit auf eine doppelte Weise stehen geblieben: Im dem 19.Jahrhundert zugehörig scheinenden Ambiente dieses Platzes und in einer Stunde (oder zweien oder dreien?) ununterbrochener Gegenwart.

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Blick auf die Roßtaler Kirche.

Bevor ich mit der Zeichnung begonnen hatte, machte ich im Kircheninnern noch eine Skizze der Emporen. Diese tribünenartigen Einbauten finden sich praktisch in allen Ortskirchen dieser evangelischen Region Frankens. Sie sind ein programmatisches Merkmal des protestantischen Kirchenbaus, kann doch die Gemeinde von dort aus das von der Kanzel verkündete Wort deutlich vernehmen: sola scriptura, „allein die Schrift“, hatte Luther gefordert – nur noch das Wort der Bibel sollte für den Glauben zählen.

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Zweistöckige Empore in der Laurentius-Kirche Roßtal.