Tübingen

Natürlich gehe ich zuerst zu Hölderlin. Das Turmzimmer am Neckar, daneben die Trauerweide, und wenige Schritte davon das evangelische Stift, in dem immer noch Theologiestudenten wohnen, wenn auch nicht mehr zu zehnt wie einst Hölderlin und Hegel in der „Geniestube“. *

Als ich zu Hölderlin gehe, ist es schon dunkel, ein feiner Niesel fällt und an Zeichnen ist nicht zu denken; erst am nächsten Mittag – Tübingen beschert mir einen Ruhetag – ist es so weit. Er liegt auch am Weg, der Turm, der fast so etwas wie Tübingens Wahrzeichen geworden ist – und das schon vor hundert Jahren war, als das originale Haus abbrannte und man es mit Turm wieder aufbaute. Auch ich helfe der Wahrheit, der sogenannten, noch ein bisschen auf die Sprünge, indem ich den grauen Tag mit Farben anreichere.

Neckarfront mit Hölderlinturm in Tübingen.

Später am Markt kann ich präziser arbeiten, wenn auch nicht zu präzise, sonst werde ich nicht fertig. Auf jeden Fall bin ich froh, dass ich in dem kühlgrauen Wetter einen Fensterplatz im Café ergattere.

Als ich, wie sich das so gehört für eine Pilgerin – auch wenn sie gar nicht nach Santiago geht -, die Jakobuskirche besuche, beginnt sich verhalten die Sonne zu zeigen. Ich setze mich in das blasshelle Licht, das durch die kitschigen Rosenfenster ins Innere fällt, und lasse den Ort auf mich wirken: eine Ausstrahlung von Schlichtheit, von Alltag, von selbstverständlichem Gemeindeleben, etwas von einer anderen, fremden, lange vergangenen Zeit …

Erst im Gehen bemerke ich die Reliefs, das kleine, das wohl einen Pilger zeigt mit Tasche und Stab, und das große – es ist etwa mannshoch – mit seiner geheimnisvollen Sonnenfigur. Als ich sie fertig gezeichnet habe, frage ich eine Frau aus der Gemeinde nach dem Pilgerstempel: den gäbe es beim Schuster gegenüber. Beim Schuster? Und wirklich, da ist ein Schusterladen, kein mister minit, sondern ein richtiger Schusterladen mit einem kleinen Mann mit Schürze und riesigem Schnauzbart, und als ich mich mit meinem frisch gestempelten Buch noch mal umdrehe, sehe ich den Aufsteller vor der Kirchentür: „Heute Handauflegen“ …

*Zu Hause nehme ich, immer noch auf Hölderlins Spur, Thomas Knubbens „Hölderlin. Eine Winterreise“ zur Hand – und erinnere mich, dass dieses Buch, in dem der Autor Hölderlind Fußreise nach Bordeaux nachwandert, eines der Samenkörner war, aus dem diese meine eigene große Wanderung gewachsen ist.


Bilderbogen II

Wie jedes Jahr auf dem Pilgerweg komme ich zwar zum Gehen und Zeichnen, bin dann abends aber zum Schreiben meist zu müde. Heute ist Ruhetag in Tübingen und ich kann nun einige der in den letzten Tagen entstandenen Bilder zeigen. Einige sind wieder im „Bilderbogen-Stil“ gehalten.

In den letzten drei Jahren bin ich immer mit zweigleisigem Zeichenmaterial gereist: auf der einen Seite das gebundene Buch, auf der anderen ein Block Postkarten. Da habe ich mir auf die Dauer selbst auf die Füße getreten, welches Motiv wohin; auf den Postkarten war ich natürlich viel lockerer und wenn im Buch die Seiten knapp werden, fällt die Motivauswahl doppelt schwer. Also habe ich dieses Jahr noch ein zweites Buch im Gepäck, wenn das erste voll ist, geht es mit dem zweiten weiter und immer schön chronologisch und nicht nach vermeintlichem Wert sortiert …

Hinter Esslingen kam der Regen und es wurde kalt. Trotzdem habe ich mich in Denkendorf für die kalte Klosterkirche und nicht für die warme Gasthausstube entschieden. Kloster Denkendorf ist, wie viele Klöster in Württemberg, nach der Reformation in eine evangelische Internatsschule umgewandelt worden und dadurch in seiner Grundstruktur erhalten geblieben.

Maßwerkfenster in der Denkendorfer Klosterkirche – es regnete und ich hatte Zeit.

Am nächsten Tag war es freundlicher, wenn auch noch deutlich kühl. Das mittelalterliche Sühnekreuz – man sieht sie hier öfter – leuchtete im gelben Morgensonneschein, der die Berge der Schwäbischen Alb dahinter um so blauer erscheinen ließ. Der andere Stein ist mit einer Sage verbunden – der Württembergische Herzog Ulrich hat sich hier während eines Bürgerkriegs versteckt gehalten, was später lokalgeschichtlich überhöht wurde. Diese Überhöhung wiederum hat Hölderlin zu dem späten und ziemlich verrätselten Gedicht „Der Winkel von Hardt“ angeregt. (Überhaupt ist hier alles Hölderlin, so wie anderswo alles Goethe ist.)

Weiter ging es am folgenden Tag – vorgestern – eine lange Strecke durch frühlingshaft freundliches, frisch gewaschenes Land, über Streuobstwiesen und durch den „Schönbuch“, Tübingens Hauswald, nach Bebenhausen zu. Gleich früh sah ich auf einer Weide eine kleine Herde Rinder: zwei Mutterkühe, zwei Färsen und eine Milchkalb. Es waren wunderschöne Tiere, deren Abstammung und Verwandschaft mir der Bauer, der bald darauf kam, ausführlich erläuterte. Eine wirklich herzerwärmende Begegnung.

Die Zeichnung dieser schönen Tiere habe ich vor Ort mit einem wasserfesten Farbstift begonnen und bei den nächsten Regenrasten im Gasthof noch mit etwas Stift und Aquarellfarbe überarbeitet.