Mut zur Lücke

Was ist Urban Sketching? Die Begründer dieser Kunstform waren allesamt Profis, kamen von Illustration und Pressezeichnung her und hatten daher kein Problem mit der Abbildung komplexer Szenerien. Laien, auch etwas ambitionierteren wie mir, fällt das nicht immer leicht – man beschränkt sich auf Gebäude, lässt gern auch „Störendes“ wie Autos und Verkehrsschilder weg. Das ist einerseits schade – macht es die Szenerien doch oft leblos – , andererseits verständlich, denn ein Bild mit ungelungenen Menschen kann schnell wie eine Kinderzeichnung aussehen.

In Holzminden, bei der Mittagsrast im „Café Lücke“, wage ich mich seit langem wieder einmal an eine komplette Szene. Fachwerk (ohne geht nicht) , Blumentöpfe, Laternen, Schaufenster und vor allem die beiden ins Gespräch vertieften Herren – der eine sieht aus wie ein Silver-Ager-Model mit schicker schlohweißer Tolle und gestutztem Bart. Zum Glück bin ich so schlau, mit den beiden zu beginnen, denn obwohl sie eine ganze Weile bleiben: irgendwann stehen sie doch auf.

Da bin ich schon weitgehend fertig, ergänze noch ein paar Details, bevor ich wieder aufs Rad steige. Am Abend entschließe ich mich, der linearen Zeichnung etwas Farbe zu geben – doch nicht zu viel und nicht überall: Mut zur Lücke.


Wilsnackfahrt

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.

Prediger 3,1

Nach zwei geruhsamen Fahrradtagen entlang der Elbe verbrachte ich einen Tag in Bad Wilsnack. Bahnfahrende kennen den Ort als Station an der Regionalstrecke Berlin-Schwerin, aber sonst? Wer weiß schon, dass Wilsnack im ausgehenden Mittelalter ein Pilgerort von überregionaler, ja internationaler Bedeutung war? In Nordeuropa war es einhundertfünfzig Jahre lang Santiago ebenbürtig.

Verehrt wurde nicht der Heilige Jakobus, sondern ein sogenanntes Blutwunder. Das Dorf Wilsnack war 1383 im Rahmen einer Fehde niedergebrannt worden – eine üble und weit verbreitete Angewohnheit kleinadliger Wichtigtuer. Als man in den Resten der Kirche nach Verwertbarem stocherte, fand man drei unversehrte und blutende Hostien – so geht die Legende. Ob es hier einen bakteriologischen Hintergrund gab oder der Ortspfarrer sich die Geschichte schlichtweg ausgedacht hatte, um dem Wiederaufbau seiner Kirche aufzuhelfen, lässt sich heute nicht mehr klären; erwiesen ist, dass bald diverse Wunder geschahen und und die Angelegenheit schnell an Tempo gewann.

Eine Pilgerfahrt wurde im Mittelalter nicht zu Selbstfindungszwecken unternommen. Meist versuchte man, etwas für sein Seelenheil zu tun – nichts fürchtete der mittelalterliche Mensch so sehr wie die Strafen der Hölle. Durch Pilgern konnte man die Chance auf einen guten Ausgang verbessern. Es war also häufig etwas, das wir heute vielleicht als Buße bezeichnen würden, selbst- oder fremdverordnet. Letzteres kam häufig vor, bei schweren Straftaten wie Totschlag ebenso wie bei Wirtshausrandale oder ähnlichem. Die Pilgerfahrt wurde angeordnet wie heutzutage zwanzig Tagessätze.

Entsprechend ruppig wird es vermutlich in den Pilgergruppen zugegangen sein. (Es gab natürlich auch „ordentliche“ Pilger.) Ein besonderes Phänomen war das „Wilsnacklaufen“, Züge von meist sehr jungen Menschen, die an Massenhysterie denken lassen, an „Kinderkreuzzüge“ und vor allem daran, wie wenig wir über das Mittelalter wissen.

Die Kirche von Wilsnack im Morgenlicht, gezeichnet auf grau getöntem Aquarellpapier von Bockingfort.

Die Einnahmen aus all dem erlaubten bald den Bau einer neuen schönen Wallfahrtskirche, und als im 15.Jahrhundert zehntausende Pilger kamen, legte man noch einmal nach und erweiterte den Bau noch einmal – bis die Reformation dem Spuk ein Ende machte. Da stand er nun, ein riesiger halbfertiger turmloser Kasten, der erst 1591 mit einem Renaissance-Giebel verschlossen wurde. Bald darauf begann der Dreißigjährige Krieg, an dessen Ende Wilsnack fast entvölkert war.

Im Laufe der Jahrhunderte entsann man sich der Kirche, renovierte und restaurierte nach dem Geschmack der jeweiligen Zeit. Von außen wirkt sie intakt, wenn auch nicht besonders harmonisch; im Innern auf eine angenehme Weise provisorisch. Es gibt in dem riesigen Gebäude mehrere kleine Ausstellungsinseln, Kinderbastelecken, Büchertische; keine Bänke, sondern einfache Veranstaltungsstühle und von denen auch nicht so viele. Ich fühlte mich willkommen geheißen.

Die alten Statuen vom Südportal der Kirche.

In einer Wandnische stehen die Originale einiger alter Statuen von der Außenseite der Kirche, die man durch neue Kopien ersetzt hat. Diese hier rührten mich an: „Christus als Weltenherrscher“ und „Maria Himmelskönigin“, beide verrußt, beschädigt und auf Augenhöhe gebracht – – – Es waren zwei meditative Stunden, die ich vor ihnen zubrachte, im Angesicht ihrer Fragilität und Größe.


Im Kunstwasserwerk

Letztes Wochenende haben die Schweriner Urban Sketches im Kunstwasserwerk die Saison eröffnet. Es sah freundlich aus draußen und fühlte sich auch ein klitzekleines bisschen frühlingshaft an, doch war es leider immer noch lausig kalt – drinnen wie draußen. Daher sind beide Zeichnungen erst zu Hause fertig geworden.

Lineare Zeichnung vor Ort, Schraffur zu Hause.

Nachdem ich vom Zeichnen der Druckpresse fast einen Knoten im Hirn bekommen hatte, stand mir der Sinn dringend nach etwas Lockerheit. So wählte ich für die Außenansicht statt allerfeinster Stiftchen den Fude Pen mit der breiten Spitze. Zu Hause habe ich noch ein paar Farbakzente mit den Inktense-Stiften gesetzt (nur der Himmel ist mit Gouache gemalt).

Das Bild ist auch ein Abschied vom naturfarbenen „Toned Watercolour Book“ der Firma Hahnemühle. Es war mir ordentlich ans Herz gewachsen, und ich mochte die bräunlichen Seiten deutlich mehr als die der grauen Variante, die ich im vergangenen Sommer ausprobiert hatte. Und manchmal gehen Wünsche in Erfüllung: seit gerade eben gibt es von Hahnemühle auch ein quadratisches Aquarellbuch in weiß. Das werde ich jetzt als Nächstes ausprobieren.


Altmark

„In the middle of nüscht“ sagen die Altmärker zärtlich, wenn sie gefragt werden, wo sie leben. Hand aufs Herz: von Stendal haben wir vielleicht mal gehört, wenn von umgeleiteten Zügen die Rede war, aber von den Hansestädten Salzwedel, Tangermünde, Osterburg, Werben … ? Von einer schier unglaublichen Dichte an romanischen Dorfkirchen, von hoch über der Elbe aufragenden Backsteinmauern, die besterhaltene mittelalterliche Stadtkerne einschließen?

Am letzten Wochenende habe ich eine Freundin besucht, die genau dort lebt. Wir haben in der ersten Vorfrühlingssonne zeichnend draußen gesessen, uns danach im Café aufgewärmt und natürlich ausgiebig geplaudert. (Hat hier einer „geschnattert“ gesagt?)

Das Tor zum Treppenbau des Stendaler Rathauses

Das Bild vom Ratskeller wollte ich zuerst verwerfen, weil ich vor lauter Gespräch die Gewölberippen verwechselt hatte. Dann aber entschloss ich mich zu einer Reparatur, habe aber dann doch nicht alles perfekt fertig gestrichelt.

Abends setzte sich meine Freundin ans Spinnrad.

Berlin

Auf Karlsruhe folgte Berlin. Ich traf Freunde (einige Urban Sketcher darunter) und Verwandte; zwischendurch blieb noch Zeit, in meinem minimalistischen Hotel am Ostbahnhof den Leporello weiter zu füllen.

Am Morgen nach der Ankunft in Berlin, Blick auf ein letztes Stück Mauer, ein bisschen Spree und ein paar Kreuzberger Häuser.

Am Nachmittag war ich mit zwei Urban Sketchern aus Berlin in der Markthalle Neun zum Zeichnen verabredet.

Dieses braune Papier ist nicht im Leporello, sondern im Toned Watercolour Book von Hahnemühle.

Markthallenzeichnen ist etwas, worum ich die Berliner jeden Winter beneide, es war allerdings relativ kühl, so dass wir im strömenden Regen noch weiter zum Oranienplatz in ein Café zogen. Hier entstand eine schnelle Skizze mit Blick in die Blaue Stunde.

Hier sind auch schon die Inkentse-Stifte mit dabei.
Der Frühstücksblick am nächsten Tag.

Am nächsten Tag war ich noch mal mit zwei Zeichnern verabredet, dieses Mal im Technik-Museum. Das Hauptbild – den Dampfschlepper „Kurt-Heinz“ – habe ich schon gezeigt; beim Kaffee im ferienhalber leider recht vollen Imbiss blieb dann noch Zeit für ein kleines Porträt eines Mitzeichners. (Vor einigen Jahren hatte ich ihn schon mal gezeichnet.)


Kurt-Heinz

Eine gute Woche lang war ich durch Deutschland gereist, hatte Freunde und Verwandte getroffen und wieder einmal feststellen müssen, dass die Zeit nicht für alle reichte … (Und auch nicht dafür, die angefangenen Zeichnungen zu sichten, zu beschriften und zu scannen.) Ein bisschen stadtmüde war ich und wirr im Kopf von so viel S- und U- und Straßenbahn und den vielen Menschen darin – da kam mir Kurt-Heinz gerade recht.

Kurt-Heinz ist ein Dampfschlepper Jahrgang 1910 und steht im Untergeschoss des Deutschen Technikmuseums in Berlin, wohin mich zwei Berliner Zeichenfreunde eingeladen hatten. Um Kurt-Heinz herum ist es ein bisschen dämmrig und vergleichsweise still, denn die meisten Besucher zieht es hoch zu den Flugzeugen.

Das stille Schiff weckte lange vergrabene Erinnerungen an den Oranienburger Lehnitzsee, auf dem ich als Kind noch die Rauchfahnen der Dampfschiffe gesehen hatte, an einen alten Herren aus der erweiterten Familie, der aus dem Schifferdorf Malz gleich neben Oranienburg stammte und dessen Berlinisches Idiom noch mit Ausdrücken in märkischem Platt durchsetzt war. Ich erinnerte mich an einen dampfmaschinenbegeisterten Freund, der sich mit einem solchen Schiff übernommen hatte, bis es zuletzt in eben diesem Malz vor sich hin rostete …

Ich habe übrigens später noch ein bisschen nachgelesen und ein paar schöne Fotos aus Kurt-Heinz‘ aktiven Tagen gefunden, mit Wäscheleinen auf dem Vorschiff und einer freundlich aus dem engen Ruderhaus blickenden Familie.