Rückblick 2: In der Stille

Im März hatte ich einen Anlauf genommen, der für Monate der einzige bleiben sollte: Mit dem Fahrrad die Kirchen der Umgebung zu besuchen und zu zeichnen, einen kleinen Pilgerweg vor Ort zu zelebrieren … Schön wäre das gewesen, theoretisch. Praktisch bin ich an unverplanten Wochenenden gern eine Einsiedlerin, die je nach Jahreszeit Balkon, Ofenplatz oder Sofa bewohnt und zeichnend an Stillleben und Pflanzen ihre Freude hat. Die verplanten, man ahnt es, gehören Freunden und Familie.

Manchmal lässt sich etwas verbinden, wie vor vier Wochen, als ich eine Freundin besuchte, die im tiefsten mecklenburgischen Hinterland lebt, zwischen Schwerin und der Seenplatte. Ich befragte meinen Kirchenführer und fand eine Dorfkirche, die fast am Weg lag, in Prestin.

Gezeichnet mit allerlei Buntstiften im quadratischen S&B Nova, das sich langsam füllt.

Es war gegen Mittag und heiß, dabei noch luftig (die Schwüle würde erst kommen im Lauf des August) und unfassbar still. Der leichte Wind raschelte in den Blättern, mehr war nicht zu hören.

Eine bescheidene Kirche ohne Turm, halb Feldstein, halb Fachwerk, und links daneben, auf meinem Bild nicht sichtbar, die Grabkapelle des Adelsgeschlechts, das hier einst das Sagen hatte. Vielleicht hatten dessen Nachfahren auch die neuen Dachziegel und die Renovierung bezahlt, denn die Kirche war zwar verlassen, aber keineswegs verfallen. Die Kirchentür war verschlossen, im Schaukasten gilbte eine Telefonnummer neben dem Plan der Gottesdienste, die in den Nachbardörfern stattfinden.

Zu Hause schaute ich mir das Foto in meinem Bildband noch einmal an, der mir als Wegweiser dient: Fast der gleiche Blickwinkel, etwas größer der Abstand; die Linde, in deren Schatten ich gesessen hatte, war mit im Bild, blattlos, winterlich. Der große Nadelbaum, der mir halb den Blick versperrt hatte, fehlte noch. Stattdessen, und ich brauchte etwas, um den Unterschied zu sehen, standen Grabsteine im Vordergrund, zahlreiche Grabsteine – ein ganz normaler Dorffriedhof. Wird die Pacht für ein Grab nicht verlängert, muss oft auch der Stein entfernt werden. Das Foto wird um 1980 herum aufgenommen sein – vierzig Jahre später sind nicht nur die Dörfer halb verlassen, auch die Friedhöfe beginnen zu verkahlen. Die nach dorfeinheitlichen Regeln (deren Wirkmacht nur unterschätzt, wer nie auf dem Dorf gelebt hat) gestalteten Gräber (Buchsbaum, Bergenien, Begonien; im Frühjahr Stiefmütterchen und vor Totensonntag das Tannengrün) werden weniger, mit ihnen die Regelhüterinnen …

Was bleibt, ist die Stille.


Stadtwanderung

Eine Stadtwanderung hatte ich mir schon lange vorgenommen. Heute war es endlich so weit. Gegen zehn ging ich los, zuerst Richtung Innenstadt. Die erste Rast legte ich auf der Mecklenburgstraße ein, der Schweriner Fußgängerzone. Das „Puppenhaus“ mit seinen leuchtend blauen Terrakottafiguren lag im schönsten Vormittagslicht. Es ist ein Bau des Backsteinexpressionismus (wie das berühmte Hamburger Chilehaus).

Blaue Terrakotta auf ziegelrotem Grund – das „Puppenhaus“ an der Schweriner Mecklenburgstraße.

Der Weg führte weiter zum Alten Friedhof. Versteckt an einem Seitenweg blickt dort das Grab des Schweriner Stadtbaumeisters Demmler von einem Hügel ins Land. Dieses Grabgebäude ist so bemerkenswert wie bizarr, ist es doch über und über mit Freimaurersymbolen bedeckt. Demmler hatte in Schwerin etwa die Position wie Schinkel in Preußen. Er muss eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen sein; sein Charisma ist auch aus zeitgenössischen Abbildungen noch zu ahnen. Er war ein Liberaler, später Gründungsmitglied der jungen Sozialdemokratie und eben Freimaurer. (Trotz seiner linken Ambitionen hatte er einen guten Draht zum Herzog, was den Hofschranzen überhaupt nicht passte.)

Die meisten der Symbole habe ich mit einem bisschen Googeln entziffern können; am bekanntesten sind, auf der oberen Stufe nur angeschnitten sichtbar, Zirkel und rechter Winkel, die so etwas wie „Liebe und Gerchtigkeit“ bedeuten.

Am Grabmal des Schweriner Stadtbaumeisters Demmler finden sich zahlreiche Freimaurersymbole.

Ich wanderte weiter über den Friedhof, fand einen schicken neuen Radweg mit Rastplätzen und Schautafeln, entschloss ich aber nach einem Blick in den Himmel zur Rückkehr Richtung Innenstadt, ohne Zeichnung; der Regen erwischte mich trotzdem.

Nachdem der abgezogen war, fand ich mich nicht ganz zufällig vor dem Logenhaus der Schweriner Freimaurer wieder. Wennschon, dennschon. Es steht in etwas versteckt einer Seitenstraße neben dem Dom.

Das Logenhaus der Schweriner Freimaurer in der Schlachterstraße 17a.

Epilog: Karlsruhe

Auf dem Heimweg von meiner Frühlingsreise habe ich noch einen Tag in Karlsruhe Station gemacht, um einen alten Freund zu besuchen. Ich hatte die Stadt einige Jahre nicht gesehen und fand sie freundlich und verjüngt vor – auch wenn meine Zeichnungen weder die schönen modernen Campusgebäude noch die die vielen jungen Menschen zeigen.

Am Ankunftsabend saß ich in der fallenden Dämmerung auf einem kleinen dreieckigen Platz in der Oststadt (hat Karlsruhe eigentlich auch Plätze, die NICHT dreieckig sind?) und zeichnete mein Hotel. Es herrschte eine ruhige und friedliche Stimmung dort, etwas von (noch?) nicht gentrifizierter Nachbarschaft; vielleicht war ich ja auch nur selbst nach zwölf Tagen Pilgerweg so friedvoll gestimmt … Passend dazu versuchte ich mich in meditativer Genauigkeit, ein wenig in Anlehnung an die Karlsruhe-Skizzen von Tatjana Kulikova; doch am Ende sieht es doch wieder sehr nach mir aus.

Am nächsten Tag lernte ich den sehr schönen Karlsruher Hauptfriedhof kennen. Hier versuchte ich nicht, in den Schuhen von jemand anders zu gehen; ich zeichnete schwungvoll drauf los und auch die Farbe kam gleich vor Ort aufs Blatt.