Heiterer Ernst

Ernst ist das Leben, heiter die Kunst.

Friedrich Schiller

Das Schweriner Staatliche Museum, eine hochkarätige Kunstsammlung, ist schon seit Jahren wegen eines umfangreichen Umbaus geschlossen. Vor lauter Grummelei darüber hatte ich übersehen, dass einige der hochkarätigsten Sammlungsstücke schon seit zwei Jahren im Schloss gezeigt werden. Nun habe ich es endlich geschafft, die Schweriner Urban Sketchers waren auf der Suche nach einem Winterzeichenort auf das Schloss gekommen.

Das Angebot an Zeichenmotiven ist überwältigend; selbst wenn man keinen Eintritt löst, kann man sich stundenlang mit dem spektakulären Treppenhaus und den Ausblicken in den Schlosshof beschäftigen. Ich hatte nach einem ersten Rundgang schnell mein Motiv gefunden.

Diese etwas über 30cm hohe Christusfigur ist ein Hingucker und, nach dem ersten Eindruck unfreiwilliger Komik, ein Rätsel. Aus dem Kontrast von kindlicher Körperform und hoheitsvoller Segensgeste erwächst uns heutigen eine schwer aufzulösende Irritation, zumal das Lächeln etwas karikatur- und buddhahaftes hat. (Auf meiner Zeichnung ist das etwas abgemildert umgesetzt.)

Tante Google hilft mit ihrer Bildersuche; später finde ich die Figur auch in einem dicken und lange nicht angesehenen Buch wieder. Im Hochmittelalter (und in katholischen Regionen bis in das 18.Jahrhundert) war das Einkleiden von Christusfiguren zur Weihnachtszeit in Nonnenklöstern weit verbreitet, die Figuren wurden – wie Anziehpuppen – nackt gefertigt und bekamen erst an ihrem Bestimmungsort Krone und Ornat. Diese Art von Gewändern hat die Zeitläufte kaum überstanden, daher ist das mit Hermelin verbrämte Mäntelchen des ehemals Rostocker Christkindes eine Rarität.

Diese Christusfigur ist ein Widerschein einer uns fremden, kaum noch einfühlbaren spätmittelalterlichen Frömmigkeit. In den antiklerikalen Erzählungen der letzten zweihundert Jahre erscheinen Nonnenklöster vor allem als Orte der Unterdrückung; dass sie auch Orte einer sehr spezifischen weiblichen Spiritualität waren, ist darüber fast in Vergessenheit geraten.

Allegorie des Sommers, Sandsteinfigur, etwa 100cm hoch.

Die Irritation über diese Figur stellte sich erst während des Zeichnens ein. Es sind insgesamt drei Kinder, die als Allegorien Frühling, Sommer und Herbst darstellen (der Winter sei gestohlen worden, als sie noch draußen standen.) Der „Sommer“ ist, ermüdet vom Schafehüten, im Stehen eingedöst, man vermeint das leise, etwas blubbernde Schnarchen eines pummeligen Kindes zu hören … Solche „niedlichen“ Kinder, die erwachsenen Beschäftigungen nachgehen, waren in der Alltagkultur (gemeinhin als Kitsch bezeichnet) noch bis ins späte 20.Jahrhundert weit verbreitet; als Nischenprodukte gibt es sie noch immer (z.B. als „Hummel“-Figuren).

Die Dissonanz zwischen der „erwachsenen“ bäuerlichen Tätigkeit und deren idyllisierender und verniedlichter Darstellung ist auf den ersten Blick nicht so stark wie die beim Anblick eines segnenden Säuglings im Hermelinmantel – doch erschien sie mir als ein Widerschein der kognitiven Dissonanzen, die frühmoderne und moderne Gesellschaften mit sich bringen (und die manchmal, um bei der Landwirtschaft zu bleiben, in Traktoren vor dem Brandenburger Tor ihren Ausdruck finden.)


Kirchenburg

Als wir im Frühjahr von Meiningen aus zur Werra-Radtour aufbrachen, kamen wir zuerst durch Walldorf. Ich war überrascht – den Begriff „Kirchenburg“ hatte ich immer mit Siebenbürgen assoziiert, doch eigentlich war es nur der Bezeichnung, die mich verwunderte: In allen Zeiten und an vielen Orten boten Kirchen mit ihren dicken Mauern und hohen Türmen den Menschen Zuflucht vor Krieg und Raub. Manchmal war auch erst die Burg da und dann kam die Kirche; so war es in Walldorf gewesen. Aus einem strategisch wichtigen Flussübergang an der Nordgrenze des Frankenreiches entwickelte sich ein Königshof, der später zu einer bischöflichen Festung ausgebaut wurde.

Man errichtete eine erste Kapelle, der später eine Kirche folgte. Zur eigentlichen Kirche wurde die Anlage erst im Spätmittelalter. Im Dreißigjährigen Krieg wurde sie geplündert und brannte das erste Mal ab, wurde wieder aufgebaut, um 2012, vor kurzem erst und mitten im Frieden, noch einmal abzubrennen.

Inzwischen ist sie wieder aufgebaut.

Es war ein schöner blauer Tag, herrliches Zeichenwetter, als ich vor zwei Wochen noch einmal mit Zeichenzeit nach Walldorf kam. Ich fing zwei Skizzen an, in unterschiedlichen Büchern – nur eine, diese, führte ich fort; die Farbe kam, wie so oft, zu Hause.


Zwischenspiel: Maßwerk statt Fachwerk

Die Schmalkaldener Stadtkirche, ein spätgotischer Bau, ist genau so blitzblank geputzt und renoviert wie die übrige Innenstadt, keine Spur mehr von Staub und Ruß der letzten fünfhundert Jahre. Keine Spur auch mehr vom „Schmalkaldener Bildersturm“, bei dem die Kirche 1608, immerhin neunzig Jahre nach Luthers Thesenanschlag, auch außen schwer beschädigt worden sei.

Zu der sehr späten Spätgotik des Baus passen die komplizierten Netzgewölbe im Innern und die virtuos variierten Maßwerkformen der Fenster. Keines gleicht dem anderen.

Schon fast auf dem Heimweg legte ich auf dem Marktplatz von Schmalkalden noch eine kleine Pause ein, um wenigstens drei dieser Fenster zu skizzieren.


Kloster Möllenbeck

Im landwirtschaftlich geprägten, dünn besiedelten Niedersachsen des frühen Mittelalters waren die Klöster lange vor den Städten da. Gestiftet wurden sie vom lokalen Adel, der sich gute Bedingungen im Jenseits und handfeste Einflussnahme im Diesseits erhoffte.

Diese Einflussnahme war – uns heutige wundert es – war häufig eine weibliche Angelegenheit. Während die Männer anderweitig und meist kriegerisch beschäftigt waren, gründeten die Frauen Klöster, aus deren Rückhalt sie die Interessen der Familie wahrnahmen.

So ist für das Jahr 896 die Gründung des Kloster Möllenbeck durch eine Edelfrau namens Hildburg beurkundet. Auf dem Bild sind Fragmenten einer sehr viel später entstanden Grabplatte mit dem Bild der Hildburg zu sehen.

Die heute sichtbare Anlage ist Ergebnis der bekannten Abfolge von Zerstörung und Wiederherstellung, von Umwidmung, Abriss und Neuaufbau. Das Kernkloster mit Wohngebäuden, Kreuzgang und Kirche ist seit der Frühen Neuzeit weitgehend unverändert geblieben. Die Gebäude beherbergen ein Jugendfreizeitheim, nur die Kirche ist öffentlich zugänglich. Beim Eintreten ist die Besucherin überrascht: es handelt sich um eine evangelisch-reformierte Kirche, bilderlos und sehr schlicht eingerichtet.

In einer Scheune des ehemaligen Wirtschaftshofes gibt es heute ein kleines, sehr schönes und anheimelndes Hotel mit einem Gartenrestaurant. Ich kam an einem Tag, an dem das Restaurant geschlossen hatte, ich setzte mich in der stillen und friedlichen Stimmung unter die alten Eschen und begann zu zeichnen.

Als ich die Farbe weitgehend auf dem Blatt hatte, hörte ich auf. Seitdem habe ich in der letzten Woche immer mal ein paar Striche daran gezeichnet; heute ist es nun fertig geworden.


Rückblick – Kloster Lehnin

So, wie sich die Stadt Brandenburg „an der Havel“ in den offiziellen Ortsnamen schreiben ließ, um sich vom Land gleichen Namens zu unterscheiden, wählte das Örtchen Lehnin „Kloster“ als Namenszusatz – die Unterscheidung zielt auf einen Revolutionsführer. Der Ortsname wird, Nahewohnende wissen das, auf der zweiten Silbe betont. Wie Schwerin oder Genthin. Oder Berlin. Eigentlich kann man da gar nichts verwechseln.

Natürlich gibt es in Kloster Lehnin ein Kloster. Oder gab, je nach Blickwinkel, denn Mönche leben hier seit fünfhundert Jahren nicht mehr. Es war ein Zisterzienser-Kloster, das erste in der Mark Brandenburg, zu deren Entstehung und Konsolidierung es beitrug. Die Zisterzienser verstanden es, Glaubensstrenge und Askese eines Reform-Ordens mit Geschäftssinn und politischem Kalkül zu verbinden. Auf dieses Weise wurden sie zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor.

Bekannt waren sie für ihre Neugründungen in Sumpfgebieten. Gelegentlich kann man lesen, dies sei von dem Wunsch angetrieben gewesen, den Tod immer vor Augen zu haben, denn das Leben im Sumpf war ungesund. Ich tendiere eher zu der These, dass Sumpfregionen neben abgelegenen Berggegenden die einzigen waren, die im bereits weitgehend landwirtschaftlich erschlossenen Mitteleuropa die erwünschte Abgeschiedenheit boten. Wie dem auch sei – Lehnin zeigte ideale Bedingungen und ist auch heute noch von Seen und Feuchtgebieten umgeben.

Zwischen Sumpf und See war ich auf überraschend gut ausgebauten Radwegen von Brandenburg her angeradelt gekommen. Als der Nebel sich hob, lag wieder einmal – es würde noch ein paar Tage so bleiben – eine absurde Wärme über dem herbstlichen Land. Etwas erschöpft schlenderte ich über das weitläufige Gelände, verweilte in der Kirche und im Apfelgarten und blieb schließlich vor dem „Königshaus“ sitzen.

Das Königshaus, in der Bauzeit ein Hospital, erhielt seinen Namen, als König Friedrich Wilhelm IV. das Gebäude kaufte, um es vor dem Abriss zu bewahren. Die Klosteranlage war zu diesem Zeitpunkt, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in einem bedauernswerten Zustand – die Kirche halb zerfallen und die schönen mittelalterlichen Profanbauten mehr schlecht als recht landwirtschaftlich genutzt. Das änderte sich 1911 mit dem Einzug der Diakonissen, die den zisterziensischen Geist des „ora et labora“ neu belebten. Da war die Kirche schon wiederaufgebaut, eine vorbildliche Leistung des frühen deutschen Denkmalsschutzes.

Der Ostchor, den ich hier gezeichnet habe, hat noch originale Bausubstanz, auch wenn der romanische Raumeindruck durch Um- und Einbauten verwischt ist. Das traditionelle Lebensmodell der Diakonissen ist fast verschwunden, auch in Lehnin leben keine mehr. Es gibt ein Hospiz, eine Rehaklinik und ein Tagungszentrum; Einrichtungen, denen man wünscht, dass etwas vom Geist des „Dienstes“ in ihnen überleben möge.

Inzwischen sind vier Wochen vergangen, morgen ist der erste Advent und mein Rückblick endet. Von Lehnin aus war ich über Potsdam und Berlin-Spandau, in weiten Teilen dem Mauerradweg folgend, nach Oranienburg gefahren. In diesen Teil der Reise gehörten zahlreiche Begegnungen, mit Verwandten, mit alten Freunden und mit Erinnerungsorten … Die wenigen Zeichnungen, die doch noch entstanden waren, habe ich schon gezeigt.


Rückblick – Tangermünde

Die Radreise entlang von Elbe und Havel liegt fast eine Woche zurück. Die Radtaschen waren ausgepackt worden, der Inhalt schnell im Rucksack verstaut, mit dem es auf eine zweite, weit kürzere Tour ging … Nun, wiederum auf der Heimreise im Zug, ist Gelegenheit, die Tradition der Rückblicke wieder aufzunehmen. (Wie machen das die Leute nur, die immer alles vor Ort fertig zeichnen?)

Mit Wilsnack, Havelberg und Werben war ich bereits drei Orten begegnet, die im Hoch- oder Spätmittelalter eine weit über ihre jetzige Bedeutung hinausgehende Rolle gespielt hatten, Tangermünde reiht sich hier ein. Der aus Böhmen stammende Kaiser Karl IV., der Prag zu einer modernen Residenz ausbauen ließ, hatte auch mit Tangermünde große Pläne (über die Elbe waren die beiden Städte unkompliziert miteinander verbunden), er machte sie zu seinem Zweitsitz und wollte von hier aus die nördlichen Provinzen des Reiches regieren.

Die Zeitläufte verhinderten, dass es dazu kam; zurück blieb eine wohlhabende Handelsstadt, die trotz eines großen Stadtbrandes im 17.Jahrhundert ihr schönes gewachsenes Stadtbild erhalten konnte.

Das Rathaus von Tangermünde zeugt, wie andere Rathäuser dieser Zeit, vom bürgerlichen Selbstbewusstsein der Epoche am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Architektonisch gehört es noch ganz zur Gotik in einer späten, überreifen Form. Die Schaufassade ist ganz und gar aus in kunstvollen Formen gefertigten, z.T. farbig glasierten Maßwerkziegeln gemauert.


Intermezzo: Stendal

Auf dem Weg nach Tangermünde hatte ich ein paar Stunden in Stendal eingeplant. Es war Montag (also schon wieder ein paar Tage her), grau, kühl und windig. (Bald würde ich mich über Sonne von vorn beklagen …) Am Markt rüttelte ich vergeblich an der Tür der Marienkirche. Als ich mich schon zum Gehen wenden wollte, kam eine Küsterin und es gelang mir, mit hineinzuschlüpfen.

Sofort fiel mir das mittelalterliche Taufbecken auf. Es ist mit wunderbar ausgeführten Heiligenfiguren geschmückt – „die weiblichen Heiligen größer dargestellt als die Männer!“ erklärte mir die Küsterin strahlend. Als erstes fielen mir die Füße des Gefäßes auf. Sie symbolisieren die vier Evangelisten in den seit der Antike üblichen Symbolen: Mensch, Stier, Löwe und Adler. Meist werden sie, einer biblischen Vision folgend, als geflügelte Wesen dargestellt. Hier aber waren die drei Tiere als Menschen mit Tierköpfen dargestellt, was ausgesprochen seltsam anmutete, für uns heutige vielleicht wie eine Kinderbuchillustration. Gezeichnet habe ich den „Stier“.

Danach setzte ich mich auf den Marktplatz und zeichnete mit zügigen und nach einwöchiger Reise langsam sicher gewordenen Strichen die Kirche.

Auch den Stendaler Dom sah ich mir noch an und saß lange im Chor, der mit vollständig erhaltenen mittelalterlichen Buntglasfenstern versehen ist. Man sieht das heute nur noch selten, oft sind nur Fragmente oder einzelne Fenster verglast, was die Wirkung mindert. Hier war der Raumeindruck ein überwältigender – Edelsteinlicht, zeichnerisch nicht zu erfassen.


An einem Sonntag im Oktober …

…, vorgestern, machte ich gemeinsam mit einer Freundin einen Abstecher nach Werben. Werben ist ein Städtchen am Elbdeich, wenige Kilometer von Havelberg entfernt am westlichen Ufer. Werben ist mit – immerhin! – etwas über tausend Einwohnern die kleinste aller Hansestädte.

Natürlich war es auch hier still, die Lebensader Elbradweg ist Ende Oktober fast versiegt. Ziehende Gänse und streitende Spatzen gab es weit mehr als Menschen, ab und zu schlich eine Katze über die Hofmauern. (Wie laut muss es vor hundertfünfzig Jahren an einem solchen Ort zugegangen sein, als noch Hühner gackerten, Schweine grunzten und der Schmied seinen Amboss schlug.)

Das Elbtor in Werben.

Nach dem Elbtor wandten wir uns der Kirche zu, einem im Vergleich mit der Überschaubarkeit des Ortes riesigen Bau, einer reich mit Maßwerkziegeln verzierten gotischen Hallenkirche. In Werben war die Johanniter-Verwaltung für ganz Norddeutschland ansässig – ihr unterstand also auch die Komturei in Kraak, wo ich am ersten Reisetag den Glockenstuhl gezeichnet hatte. Auch der Pilgerweg nach Wilsnack führte über Werben.

Leider war die Kirche erst einmal verschlossen. Wir wendeten ihr den Rücken zu und zeichneten die schönste aller schönen Werbener Türen. Daran friemelten wir lange, und als noch jemand öffnete, hörten wir auf unsere knurrenden Mägen und fingen keine Zeichnung mehr an …


Havelberg

Der Havelberger Dom ist ein großer kompakter Bau, der machtvoll und abweisend auf dem Steilufer der Havel steht, flussseitig weithin sichtbar. Es ist kein spiritueller, sondern ein politischer Ort, ein Brückenkopf an der Grenze zwischen christlich und heidnisch, zwischen „West“ und „Ost“.

Im Innern wurde ich von Stille und romanischer Düsternis empfangen, aus der heraus kostbare Glasfenster leuchteten. Doch weder die Fenster noch der reich geschmückte gotische Lettner luden mich zum Bleiben ein, sondern der Kreuzgang. Hier verband sich das Bergende der Mauern mit dem Tageslicht, das vom letzten Grün einer alten Linde gefiltert wurde.

Im Havelberger Kreuzgang. Ich saß hier länger als zwei Stunden, das Motiv erwies sich als vertrackt.

Am nächsten Tag war vor der Abfahrt Zeit und Gelegenheit für eine lockere Skizze des Doms von außen.


Wilsnackfahrt

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.

Prediger 3,1

Nach zwei geruhsamen Fahrradtagen entlang der Elbe verbrachte ich einen Tag in Bad Wilsnack. Bahnfahrende kennen den Ort als Station an der Regionalstrecke Berlin-Schwerin, aber sonst? Wer weiß schon, dass Wilsnack im ausgehenden Mittelalter ein Pilgerort von überregionaler, ja internationaler Bedeutung war? In Nordeuropa war es einhundertfünfzig Jahre lang Santiago ebenbürtig.

Verehrt wurde nicht der Heilige Jakobus, sondern ein sogenanntes Blutwunder. Das Dorf Wilsnack war 1383 im Rahmen einer Fehde niedergebrannt worden – eine üble und weit verbreitete Angewohnheit kleinadliger Wichtigtuer. Als man in den Resten der Kirche nach Verwertbarem stocherte, fand man drei unversehrte und blutende Hostien – so geht die Legende. Ob es hier einen bakteriologischen Hintergrund gab oder der Ortspfarrer sich die Geschichte schlichtweg ausgedacht hatte, um dem Wiederaufbau seiner Kirche aufzuhelfen, lässt sich heute nicht mehr klären; erwiesen ist, dass bald diverse Wunder geschahen und und die Angelegenheit schnell an Tempo gewann.

Eine Pilgerfahrt wurde im Mittelalter nicht zu Selbstfindungszwecken unternommen. Meist versuchte man, etwas für sein Seelenheil zu tun – nichts fürchtete der mittelalterliche Mensch so sehr wie die Strafen der Hölle. Durch Pilgern konnte man die Chance auf einen guten Ausgang verbessern. Es war also häufig etwas, das wir heute vielleicht als Buße bezeichnen würden, selbst- oder fremdverordnet. Letzteres kam häufig vor, bei schweren Straftaten wie Totschlag ebenso wie bei Wirtshausrandale oder ähnlichem. Die Pilgerfahrt wurde angeordnet wie heutzutage zwanzig Tagessätze.

Entsprechend ruppig wird es vermutlich in den Pilgergruppen zugegangen sein. (Es gab natürlich auch „ordentliche“ Pilger.) Ein besonderes Phänomen war das „Wilsnacklaufen“, Züge von meist sehr jungen Menschen, die an Massenhysterie denken lassen, an „Kinderkreuzzüge“ und vor allem daran, wie wenig wir über das Mittelalter wissen.

Die Kirche von Wilsnack im Morgenlicht, gezeichnet auf grau getöntem Aquarellpapier von Bockingfort.

Die Einnahmen aus all dem erlaubten bald den Bau einer neuen schönen Wallfahrtskirche, und als im 15.Jahrhundert zehntausende Pilger kamen, legte man noch einmal nach und erweiterte den Bau noch einmal – bis die Reformation dem Spuk ein Ende machte. Da stand er nun, ein riesiger halbfertiger turmloser Kasten, der erst 1591 mit einem Renaissance-Giebel verschlossen wurde. Bald darauf begann der Dreißigjährige Krieg, an dessen Ende Wilsnack fast entvölkert war.

Im Laufe der Jahrhunderte entsann man sich der Kirche, renovierte und restaurierte nach dem Geschmack der jeweiligen Zeit. Von außen wirkt sie intakt, wenn auch nicht besonders harmonisch; im Innern auf eine angenehme Weise provisorisch. Es gibt in dem riesigen Gebäude mehrere kleine Ausstellungsinseln, Kinderbastelecken, Büchertische; keine Bänke, sondern einfache Veranstaltungsstühle und von denen auch nicht so viele. Ich fühlte mich willkommen geheißen.

Die alten Statuen vom Südportal der Kirche.

In einer Wandnische stehen die Originale einiger alter Statuen von der Außenseite der Kirche, die man durch neue Kopien ersetzt hat. Diese hier rührten mich an: „Christus als Weltenherrscher“ und „Maria Himmelskönigin“, beide verrußt, beschädigt und auf Augenhöhe gebracht – – – Es waren zwei meditative Stunden, die ich vor ihnen zubrachte, im Angesicht ihrer Fragilität und Größe.