Vor Gericht

Der Schweriner Demmlerplatz liegt am nördlichen Rand der heutigen Innenstadt. In früheren Jahrhunderten befand sich auf diesem Hügel die „Königsbreite“, ein Richtplatz, weit außerhalb der Altstadt. Mecklenburg industrialisierte sich langsam, entsprechend gemächlich vergrößerte sich die Stadt. In den fetten Jahren zwischen 1900 und dem Ersten Weltkrieg war der Stadtrand bis hier vorgerückt, mit hübschen bürgerlichen Häusern, und 1916 war das Gerichtsgebäude fertig geworden. Ein gewaltiger Kasten, stadtseitig zwischen Neoklassizismus und Art Déco – die Rückseite, die damals auf die Felder hinaus ging, gehörte zum Untersuchungsgefängnis und blieb entsprechend undekoriert.

Seit ich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahre, streife ich diesen Stadtbezirk auf meinem Arbeitsweg und nehme mir immer wieder vor, hier zu zeichnen. Gestern war es endlich soweit, im Kreis der Schweriner Urban Sketchers.

Während einige von uns vor der einschüchternden Präsenz des Gebäudes zu den Stadtvillen flohen, nahm ich es mutig mit dem Eingangsbereich auf. Ein Mäuerchen an einer halb vertrockneten Grünanlage (der Platz liegt abseits aller Durchgangswege und wirkt trotz des angrenzenden Riesenbaus etwas vergessen) lud zum Sitzen ein, es gab sogar Schatten. Später holte ich mir doch noch einen Sonnenbrand und wurde dennoch nicht fertig.

So friemelte ich heute zu Hause an der Fassade weiter und kreiste mit meinen Gedanken um die düstere Geschichte des Ortes: das schöne Gebäude beherbergte nach 1945 ein sowjetisches Militärtribunal und seit Mitte der 50er Jahre die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit samt Untersuchungsgefängnis. (Misstraut den Grünanlagen.) Erst nach 1989 konnten Land- und Amtsgericht wieder an den Ort zurückkehren, das Dokumentationszentrum für die Opfer deutscher Diktaturen erinnert an die Geschichte.


Die Rosen der anderen

Der Schrebergarten von Freunden hat vor zwei Jahren die Besitzer gewechselt. An Wellplaste und Betonformsteinen lässt sich die Laube auf die 1960er bis 70er Jahre datieren; die Pflanzen dürften ab dieser Zeit eingezogen sein.

Es finden sich dort, anders als in meinem Hofbeet, kaum pastellfarbene Romantikrosen mit schwer hängenden Blütenköpfen, sondern eine sauber ausgerichtete Reihe von kräftig gefärbeten Edelrosen mit langen gerade Stielen und aufrechten Köpfen. Am schönsten sind natürlich die zweifarbigen. Sie erinnern mich an Kalenderfotos und Postkarten meiner Kindheit, auf denen solche Rosen – meist unter dem Namen „Teerose“ – eine wichtige Rolle spielten.

Als ich anfing, eine davon zu zeichnen, stellte ich fest, dass sie mit ihrer rosenarchetypischen Form ganz und gar der Ästhetik der 50er und frühen 60er entsprach, einer Ästhetik voller Winkel, Trapeze und Asymmetrien. Natürlich galt es auch, ihren Namen herauszufinden; bei der auffälligen Färbung in knalligstem Pink mit silbrigweißer Rückseite kamen nicht so viele in Frage. Wahrscheinlich ist es „Acapella“, eine preisgekrönte Züchtung aus dem Jahr 1994, also gar nicht so alt, wie ich gedacht hatte. Ich stellte mir vor, wie die gartenliebenden Vorbesitzer nach der Wende die Kataloge gewälzt und sich für diese Schönheit im Stil einer Zeit entschieden hatten, die mehr ihre gewesen war als es die kommende jemals sein würde. Und jener Zeit, die als „Moderne“ 1994 bereits eine Weile unmodern war, habe ich auch dann auch im Stil meines Rosenporträts ein bisschen die Referenz erwiesen.

(Graphit, Derwent Procolour Pink und diverse Aquarellfarben in meinem botanischen Skizzenbuch Stillman&Birn Zeta A4)


Vom Harz nach Leipzig

Und schon ist die erste Reisewoche vorbei, eine Woche Ferienhausurlaub mit Freunden und Familie und zum Glück auch ordentlich Zeichenzeit. Ich bin beim Inktober geblieben, habe mit schwarz und weiß auf grau gezeichnet und ab und zu ein bisschen Farbe zugefügt.
Zuerst ein Nachtrag von der Burg Falkenstein. Zufällig waren wir in ein Burgfest geraten; als Höhepunkt gab es ein Ritterturnier. Ich habe mich dabei in schnellen Bewegungsskizzen geübt und zum Schluss für den Herrn von Falkenstein doch ein Foto zur Hilfe genommen. 

Dienstag teilte sich die Reisegesellschaft; ich fuhr nach Leipzig, um mir die große Ausstellung ostdeutscher Kunst im Museum der bildenden Künste anzusehen. Der „Mann mit Koffer“ von Trak Wendisch rief in mir ein 80er-Jahre-Gefühl wach, vieles andere blieb mir feDienstag teilte sich die Reisegesellschaft; ich fuhr nach Leipzig, um mir die große Ausstellung ostdeutscher Kunst im Museum der bildenden Künste anzusehen. Der „Mann mit Koffer“ von Trak Wendisch rief in mir ein 80er-Jahre-Gefühl wach, vieles andere blieb mir fern.

Regelrecht befremdet war ich vom Museum selbst, ich fühlte mich als Besucherin dort unwillkommen zwischen allerlei L´art-pour-l´art-Spielereien, angefangen bei viel zu kleinen Garderoben in einer riesigen Halle, düsteren Treppenhäusern bis zu türkisfarbenen Wänden mit Wandtatoos hinter mittelalterlichen Gemälden. Klingers Beethoven und den verbundenen Jugendstil hatte man glücklicherweise einfach bei sich gelassen. 

Zum Zeichnen entschied ich mich für eine „Flora“ aus zart bemaltem Marmor. 

Und zum guten Schluss war da noch der sehr entspannte junge Mann im Einkaufszentrum …


Völkerkunde oder: Chinoiserie 2.0

Eigentlich hatte ich die Rosen zeichnen wollen: hunderte alte Sorten kann man im Rosengarten am Schloss Charlottenhof im Park Sanssouci bewundern. Wenn man zur richtigen Zeit kommt. Ich aber war zwei, drei Wochen zu spät, die Hitze hatte das ihre dazu beigetragen, dass nur noch ein paar Nachzüglerinnen ihre letzten rosa Blütenköpfe zeigten. Außerdem wurde es dort rasch heiß.

So wanderte ich weiter zum Chinesischen Teehaus, einem Pavillon im „chinesischen“ Stil, dessen lebensgroße vergoldete Figuren unter „Palmen“-Säulen uns viel über das Weltbild des Rokokko und wenig über das China jener Zeit erzählen: eine Chinoiserie. Bewacht wurde das Gebäude von einem grimmig dreinschauenden Herrn meines Alters, der mich daran erinnerte, dass Potsdam einst eine Hochburg sehr staatsnaher DDR-Beamter gewesen war.

Kaum hatte ich es mir auf meiner schattigen Bank gemütlich gemacht, kamen drei echte Chinesinnen des Wegs und begannen vor der Figurengruppe für ein Foto zu posieren. Zwei von ihnen überstiegen eine niedrige Hecke am Wegrand und im selben Moment hörte man es von innen laut an die Scheibe wummern. Als die Damen nicht reagierten, kam der Wachmann in erstaunlichem Tempo um die Säulen herum gerannt und brüllte: „MACHT IHR DITT IN CHINA OOCH SO, ODA WATT?“

Vergoldete Figurengruppe am Chinesischen Teehaus im Park Sanssouci

Am früheren Beruf des Herrn hatte ich nun keinen Zweifel mehr. Die Chinesinnen aber schlenderten geruhsam weiter und ließen mich mit der Frage zurück, ob ihnen wohl eine App verraten hatte, was die goldenen Figuren darstellen sollten.


Kunstbetrachtung

Ich zeichne gern in Museen und Ausstellungen. Nichtzeichnende Menschen haben es an meiner Seite nicht immer leicht – entweder ich stürme für den ersten Überblick durch alle Räume, oder ich sitze zeichnend vor dem einen oder andern Objekt – und das kann dauern. Ein Kunstwerk abzuzeichnen – mehr oder weniger genau, als flüchtige Skizze oder als vertiefte Studie – verändert meinen Blick auf das, was ich sehe, es wird schöner vor meinen Augen, tiefer, mehrdimensionaler …

Meist habe ich Farbstifte dabei – Wasserfarbe ist aus naheliegenden Gründen nicht so gern gesehen – , doch oft bleiben die in der Tasche; ich führe die farbliche Gestaltung dann zu Hause aus. So auch bei den beiden Bildern, die ich letztes Wochenende im Dresdener Albertinum gezeichnet habe. Es gab eine große Schau mit DDR-Kunst aus den eigenen Beständen des Museums. Die Auswahl fiel mir schwer, vieles erkannte ich wieder, manches vertraut, manches ganz neu gesehen, manches befremdend.

Da war zuerst Baldur Schönfelders „Nike“. Ich erinnerte mich genau an die DDR-Kunstausstellung, erinnerte mich, wie ich im kalten Februar 1983 gemeinsam mit einem Freund durch die Ausstellungsräume ging, wo die Skulpturen ausgestellt waren, und wie wir erschüttert vor der bandagierten, zu Tode verletzten Siegesgöttin standen.

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Baldur Schönfelder, „Nike I“, Bronze, ausgestellt im Dresdener Albertinum

Und dann sah ich „Peter im Tierpark“. Ich behaupte mal, dass es niemanden, wirklich niemanden gibt, der in der DDR der 60er und 70er aufgewachsen ist und dieses Bild nicht kannte. Das Bild war der Star einer Kunstausstellung der 60er gewesen; vielfach reproduziert schmückte es Schulbücher und Schallplatten, erschien als Briefmarke und Kunstdruck. (Immer wieder erinnere ich daran, wie bilderarm diese Zeit im Vergleich zur heutigen war, ohne Hochglanzmagazine, für viele noch ohne Fernsehen, ohne Werbetafeln …)

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„Peter im Tierpark“, Zeichnung in A6 nach einem Gemälde von Harald Hakenbeck

Nun sah ich das Bild zum ersten Mal im Original, und ich war überrascht, ja zutiefst erstaunt über seine malerische Qualität. (Die meine winzige Aquarellkopie natürlich nicht wiedergeben kann.) Die scheinbare Schlichtheit des Motivs täuscht: das Ganze ist wunderbar delikat gemalt, die blaue Jacke leuchtet und strahlt, der dekorative Hintergrund entfaltet sich wie ein Wandteppich, vor dem individuell und archetypisch zugleich das Kindergesicht strahlt …

 


Deutschland, einig Vaterland

Das mecklenburgische Dorf Mestlin wurde in den 50er Jahrne zum „sozialistischen Musterdorf“ ausgerufen und erhielt einen großen leeren Platz mit Schule, Landambulatorium, Geschäften und vor allem einem überdimensionierten Kulturhaus im Stalinstil. Es steht mittlerweile unter Denkmalschutz, wird von einem Verein betreut und nach langem Leerstand gelegentlich wieder genutzt.

Als ich am Sonntagabend dort zum Zeichnen Halt machte, hing eine blauweiße Rautenflagge draußen und kündigte ein „Oktoberfest“ an. Kaum hatte ich mich in der Bushaltestelle niedergelassen, kam ein offensichtlich genervter Halbwüchsiger vorbei und schmiss ein paar Knaller dagegen – ob sie mir galten, habe ich lieber nicht ermittelt. Die faschingsmäßig „bayerisch“ kostümierten Dorfbewohner, die nach und nach eintrafen, nahmen von mir zum Glück keine Notiz.

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Der sozialistische Dorfplatz in Mestlin.


Sommerbilder II

Täglich zeichnen – was im Urlaub zu den Grundbedürfnissen gehört, will mit dem Alltag immer wieder neu ausdiskutiert werden, streitet sich mit Meditations- , Bewegungs- und Lesezeit um freie Plätze und Prioritäten ……..

Im Restaurant, im kleinen Freitagsnachmittagsurlaub, geht es leicht von der Hand und muss sich nur mit dem Hunger unterhalten. Und dann sind die Sushi – oh Schreck! –  doch schon fast aufgegessen, als mir einfällt, dass ich kein Foto gemacht habe. Weshalb der Tee die Hauptrolle bekommt.

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Endlich ein gutes Sushi-Restaurant in Schwerin. 

Abends bei Freunden, während die Kinder ins Bett gebracht werden, ist auch eine gute Zeit.

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Auch der Sonntag bietet eine Gelegenheit, zu der das Zeichnen dazugehört: einen Museumsbesuch. „Hinter dem Horizont“ ist eine kleine und feine Schau von DDR-Kunst aus der Sammlung des Schweriner Museums, klug präsentiert und kommentiert. Zum Skizzieren entscheide ich mich für ein Bild von Clemens Gröszer, „Bildnis Andrea P. II“. Wie immer, wenn ich ein Bild abzeichne, bin ich mit jedem Blick, mit jedem Strich faszinierter davon. Hier kommt zur Kunstfertigkeit des Malers (allein der raffinierte Ausschnitt mit den ganz leicht angeschnittenen Füßen!) noch ein Wiederkennen dazu: die Abgebildete muss Ende der Achtziger etwa so alt gewesen sein wie ich damals, und sie trug die gleiche Kleidung (von den weißen Lederhandschuhen abgesehen), den gleichen graugrünen Pullover mit überschnittenen Schultern und sich beulenden Nähten, die gleichen Till-Eulenspiegel-Schuhe; der Frisur jener Jahre bin ich bis heute treu geblieben.

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Museumsbesuch in Schwerin

Das Montagsbild lasse ich aus, und das von gestern – habe ich heute morgen gemalt. (Was nur funktioniert hat, weil ich den Vorsatz schon gestern Abend gefasst hatte.) Obst aus dem Garten, vom frisch geschüttelten Baum aufgelesen und auf den Frühstückstisch gelegt. Die dekorativen blauen Schatten verdankt es dem Lampenlicht, was um diese Morgenstunde zum Frühstück schon wieder nötig ist.

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Morgenobst. Dieses Mal bin ich konzentriert genug, die Lichter freizulassen und muss sie nicht nachträglich mit Marker einfügen.