Rückblick 1: Worpswede

In der letzten Zeit bin ich wieder zum regelmäßigen Zeichnen an den Wochenenden gekommen und oft entsteht der Text dazu gleichzeitig in meinem Kopf. Die Schnittstelle zur Textverarbeitung fehlt (ob das zu begrüßen oder zu bedauern ist, soll hier nicht verhandelt werden) und so hat sich ein bisschen was angesammelt, das hier gezeigt werden will.

Vor zwei Wochen bin ich über ein verlängertes Wochenende in Worpswede gewesen, mit einer Freundin, die nicht zeichnet, doch sich gern in Begleittexte, Broschüren und Biografien versenkt und auch mal eine Extrarunde ins Nachbarmuseum dreht, so dass es gut gepasst hat. Worpswede warb mit dem Heinrich-Vogeler-Jahr; das war unser Anlass.

Der Barkenhoff, Heinrich Vogelers Lebens- und Arbeitsstätte, gezeichnet mit Füller und wasserlöslichen Farbstiften im guten alten Stillman&Birn Nova Trio Square, dass ich 2019 in Amsterdam von Pat Southern-Pearce bekam und immer noch nicht vollständig gefüllt habe.

Den Barkenhoff kennen viele aus Vogelers berühmtem Gemälde „Sommerabend“, einer Ikone von Jugendstil und Symbolismus; auf vielen anderen, lockereren und, wie ich finde, schöneren Bildern bietet er den idyllischen Hintergrund. Im Inneren sind die Lebensstationen Vogelers anhand von Originaleinrichtung, Gemälden und Zeitzeugnissen erfahrbar – vom Jugendstil-Romatiker zum glühenden Kommunisten, der in seiner Idylle ein Kinderheim der Roten Hilfe einrichtete und später in der Sowjetunion Propagandakunst schuf, um 1942 70jährig als unliebsamer Ausländer nach Kasachstan „evakuiert“, ums Leben zu kommen. (Jedoch nicht in einem Lager, wie ich lange gedacht hatte.)

Kugelschreiberzeichnung des „Haus im Schluh“, Martha Vogelers Wirkungsstätte

Vogelers Frau Martha ließ sich nach der Trennung der beiden das „Haus im Schluh“ bauen und eröffnete dort eine Galerie mit Werken Vogelers. Sie, die der Romantiker auf seinen Bildern schwärmerisch zur ätherischen Prinzessin verklärt hatte, erwies sich als tatkräftig und lebensklug. Sie gründete eine Handweberei und eine Pension und konnte die wachsende Familie damit – und mit dem angeschlossenen großen Garten – auch in schlechtesten Zeiten über die Runden bringen; das Ensemble befindet sich noch immer in Familienbesitz.

Eine Waschkommode nach Vogelers Entwurf – Teil eines Schlafzimmer-Ensembles. Da es das Wochenende der wechselnden Medien war, ist dies mit Aquarellfarbe in ein vorgrundiertes Hahnemühle-Aquarellbuch gezeichnet.

Das „Haus um Schluh“ konzentriert sich auf Gebrauchskunst wie Weberei und Möbel. Die farbkräftig gestrichenen Möbel mit ihren stilisierten Blumen (meist Tulpen) sahen für mich ein bisschen aus wie möbelgewordene Kreationen der schwedischen Modedesignerin Gudrun Sjøden. (Deren Kleidung ich liebe, bei Möbeln ziehe ich holzfarbene Schlichtheit vor.)

Am Ende der drei Tage waren wir angefüllt mit Bildern, Geschichten und Erlebtem wie dem morgendlichen Schwimmen in der moorig-braunen Hamme und einem hervorragenden Abendessen im „Vogeler-Bahnhof“ (der nicht nur so heißt, sondern wirklich von Vogeler entworfen worden war); wir hatten nicht die Hälfte von dem gesehen, was möglich gewesen wäre – wir kommen wieder.


Leporello zum zweiten

Im Oktober 20 war ich das letzte Mal in einem der wenigen Ladengeschäfte des Gerstäcker-Versandes, in den herrlich großzügigen Dresdner Verkaufsräumen, und nahm von dort spontan ein Hahnemühle Leporello-Büchlein mit. Es schien mir das richtige Format zu sein für eine Urlaubswoche in Gesellschaft, für etwas Zusammenhängendes, Abgeschlossenes, nicht zu Umfangreiches.

Letzte Woche stattete ich dem Karlsruher Geschäft einen Besuch ab. Es ist in einem engen Hofgebäude lange nicht so exklusiv untergebracht, und „eigentlich“ brauchte ich auch nichts außer ein paar feinen schwarzen Stiften, denn ich hatte gerade angefangen, mich mit Schaffurtechniken zu beschäftigen. Und – irgendwo drauf muss man damit schließlich zeichnen – vielleicht noch ein kleines Büchlein nach Moleskin-Art …

Wie so etwas endet, wissen alle, die gern in solche Läden gehen. Mein Sortiment Stifte hatte ich schnell zusammen, und bald fand ich mich mit einem Stapel Skizzenbücher in der Bücherecke wieder. Ich erwarb ein handschmeichlerisch quadratisches Büchlein mit glattem 140er Papier und abgerundeten Ecken, einen potentiellen Begleiter für alle monochromen Tage; und als ich schon am Gehen war, fiel mir wiederum ein Leporello ins Auge – das solide 300er Aquarellpapier ließ alles guten Vorsätze zu graphischem Arbeiten dahinschmelzen. (Ein Kasten Inktense-Stifte musste auch noch mit, von denen wird später die Rede sein.)

So ein gefalteter Papierstreifen bietet die Möglichkeit, die einzelnen Bilder ineinander übergehen zu lassen.

Damit ging ich als erstes in die Konditorei Lasch gleich um die Ecke.

In den nächsten Tagen war ich mit meiner Tochter unterwegs; wir spazierten durch den Schlossgarten, erfreuten uns an den ersten Winterblühern – es war sonnig geworden nach langem Grau – und gingen in die vor einigen Jahren restaurierten Schaugewächshäuser.

Diese prachtvoll blühende Pflanze ist eine Bromelie, wahrscheinlich eine Billbergia.

Unser Tagesziel war die Ausstellung „Göttinnen des Jugendstils“ im Badischen Landesmuseum. Zwischen Femme fatale und meditierender Nonne, zwischen romantisiertem Mittelalter und Radfahrkostüm wurde nach dem Bild von Frauen in der Zeit um 1900 gesucht.

Diese „Sphinx“ des Belgiers Charles van der Stannen – ein lebensgroßer Kopf aus bemaltem Gips – strahlt eine geheimnisvolle Traumverlorenheit aus. Das überraschend individuelle Gesicht der Figur (was wiederzugeben mit leider nicht gelang) verstärkt noch die surreale Wirkung.

Gleich um die Ecke der Ausstellungsräume, in der Majolika-Manufaktur, entstand dieser Wandteller mit dem Medusenhaupt. In deutlich weniger subtiler Weise als die „Sphinx“ wird hier von (männlichen) Ängsten vor der zerstörerischen Kraft einer Frau erzählt – keine Spur von „edler Einfalt und stiller Größe“.


Albertinum

Als ich vor einem Jahr in der großen DDR-Schau des Dresdner Albertinums war, hatte ich mir vorgenommen, mich bei meinem nächsten Besuch den Skulpturen der ständigen Ausstellung zu widmen. Viele sind es, sehr viele, durch alle Zeiten und Größen, von Antike bis Postmoderne, von handlich bis monumental.

Meine erste Wahl fiel auf den 1911 entstandenen „Siegerknaben“ von Sascha Schneider. Die Jugendstilästhetik mit ihrem Materialmix hatte es mir angetan.

Von ganz anderer Art ist Christian Volls „Frau, sich den BH öffnend“. Die 60 cm kleine Statue aus rotem Ton trennen nur elf Jahre von dem ätherischen Knaben – und mit ihnen ein ganzes Zeitalter. Der in Karslruhe wirkende Christian Voll schuf ein Kunstwerk von ganz anderer Erotik: erdverbunden, wahrhaftig und sehr menschlich. Ganz glücklich saß ich vor der Figur, die sich ihren Platz im Schaudepot mit vielen anderen teilen musste – und wegen dieses Ortes auch einen Inventarzettel trägt.

Beide Bilder sind im grauen Stillman&Birn Nova Buch entstanden, und zwar vor Ort mit einem sepiabraunen Polychromos-Buntstift. Farbe kam dann später: für den Knaben habe ich verschiedene Marker kombiniert und die Frau ist mit Aquarell und Deckweiß koloriert.


Beuron

Nachdem ich drei Tage lang über die Schwäbische Alb gewandert war, den Albtrauf hoch und das Bäratal entlang bis nach Bärenthal (nein, gesehen habe ich keinen, doch einsam genug wäre es gewesen), führte mich mein Weg zum Kloster Beuron. Das Kloster, das als „Erzabtei“ eine hervorgehobene Stellung unter den benediktinischen Klöstern einnimmt, wird von etwa 50 Mönchen bewohnt, die in besonderer Weise das benediktinische Stundengebet und den gregorianischen Gesang pflegen. Schon einmal, in der Obermainregion, hatte ich – sehr bewegt – diese Gebetsform als Gast in einem Kloster erleben dürfen.

Beuron bietet zudem einen beeindruckenden künstlerischen Rahmen. Analog zur Erneuerung der kirchlichen Liturgie hatte sich zum Ende des 19.Jahrhunderts eine Bewegung von bildenden Künstlern entwickelt, die an frühchristliche und byzantinische Formen anknüpften. Wie immer bei solchen Renaissancen ist auch hier etwas Neues entstanden – neben den archaischen Elementen hat das Ergebnis auch eine Anmutung von Jugendstil.

Die Beuroner Gnadenkapelle ist ein Gesamtkunstwerk, das ganz und gar im Geist dieser Künstlerschule geschaffen wurde. Ich habe dort einige Stunden zugebracht, meditierend, dem Gesang der Mönche lauschend und zum Schluss auch noch zeichnend. Mein Bild empfindet einen kleinen Teil der Apsisausmalung nach, wobei die Ornamentik im Original natürlich viel feiner, ziselierter und harmonischer ist. Ich habe wesentliche Teile der Zeichnung vor Ort auf einem farbig vorgrundierten Blatt begonnen – und bin zu Hause hoffentlich nicht der Versuchung erlegen, aus einem andeutenden Fragment eine realistische Abbildung machen zu wollen.

Als ich meinen Pilgerweg am nächsten Tag fortsetzen wollte, regnete es so stark und anhaltend, dass ich auf den Zug ausgewichen bin. So saß ich gegen Mittag auf dem kleinen Beuroner Bahnhof und hatte noch etwas Zeit, die Kalkfelsen im Herbstlaub zu skizzieren. (Auch hier: vorgrundiert und zu Hause nachgearbeitet.)


Florales Fachwerk

Fachwerk – zu floralen Formen gebogen – das hat nur der Jugendstil versucht. Als ich das „Sonnenhaus“ in Coburg erblicke, traue ich meinen Augen nicht, so auffällig ist das Gebäude. Gebogenes Fachwerk, Sonnen- und Mondmotive, riesige vegetative Stuckornamente, steinerne Büsten, Zierleisten und Burgzinnen … kein Wunder, dass das Bauhaus kurze Zeit später radikal mit dem Ornament aufgeräumt hat.

Später las ich, dass Coburg noch mehr bekannte Jugendstilbauten zu bieten hat, die dem Mix aus quietschbunten Renaissancefassaden und Tudorrevival noch eine weitere Facette hinzufügen. Ob das immer schön ist … jedenfalls hat es viel Spaß gemacht, es zu zeichnen.

Das Coburger

Das Coburger „Sonnenhaus“, eine auffällige Jugendstilvilla. Super5-Tinte in grau und schwarz mit Wasserfarbe.