Das allerletzte Blatt

Nach meiner Rückkehr aus Amsterdam hatte ich schon einmal über die allerletzten Blätter nachgedacht, die nur noch koloriert werden müssen, über die eine nicht ausgepackte Kiste vom vorigen Umzug und das halbvolle Irgendwas, das seit Monaten in der Küchenecke steht … Ein solches allerletztes Blatt kam mir heute unter die Finger, und obwohl oder vielleicht gerade weil ich zur Zeit an deutlich gewichtigeren Projekten stemme, musste es heute fertig werden.

Es war mein Abschiedsbild des letzten Pilgerweges, eine Stück hochkomplexer Dachlinie des Freiburger Münsters. Ich hatte die Zeichnung vor Ort begonnen und im Zug nach Foto noch ein bisschen daran rumgefriemelt. Später zu Hause arbeitet ich das Reisebuch chronologisch nach, Farbe, Beschriftung, Scan, Blog … bis, eben, auf das allerletzte Bild. Warum? Ich weiß es nicht mehr, nur, dass ich das Buch immer mal wieder aus der Kiste mit den leeren und und unabgeschlossenen Büchern gezogen habe und wieder reingestellt: mach ich später.

Heute war es soweit. Ein paar Pinsel voll Krappbraun, Umbra und Ultramarin holen mehr Farbe aus dem Motiv als seinerzeit, an einem grauen Oktobermittag, drin waren. Nun werde ich noch einen Aufkleber auf das Buch kleben und kann es endlich zu den „fertigen“ stellen. Es ist auch ein Abschied von einem vielversprechenden Format: Stillman&Birn Beta Square, also quadratisch. Obwohl ich quadratische Bücher liebe, passte es dann am Ende doch nicht: zu unhandlich unterwegs (17x17cm verlangen schon nach einer Unterlage), zu sperrig im Rucksack und aufgeklappt zu groß für den Scanner. Was ich sehr lieb gewonnen habe, ist die robuste Softcover-Ausgabe.


Zum Wetzstein

Es war um 2011 herum, als ich das erste Mal vom „Wetzstein“ hörte; ich weiß nicht mehr, wo und wie, doch stand ich (dienstlich in der Region unterwegs) nicht zufällig vor dem Buchgeschäft in der Freiburger Salzstraße. So hatte ich mir einen Buchladen immer vorgestellt, mit ganzen Sortimenten in den Regalen, mit Schränken voller Insel und Manesse, mit Lyrik- und Philosophieregalen, mit gerahmten Schriftstellerbriefen an den Wänden und Lederausgaben im Hinterzimmer.

Seitdem bin ich zwei drei Mal dort gewesen, immer, wenn der weite Weg von Schwerin mich dort vorbei geführt hatte. Nun, kurz vor meiner Abreise Richtung Schwäbische Alb, kam die Nachricht von der Schließung dieses so traditionsreichen wie einzigartigen Geschäfts – so beschloss ich einen letzten Abstecher dorthin.

Von Pfullendorf nach Freiburg sind es gute einhundert Kilometer Luftlinie – und als Nordlicht hatte ich mir die Karte noch nie genau genug angesehen, um zu wissen, wo mich die fünf Stunden Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln überall hinführen würden. Erstmal: Mit dem Bus bis zum Zug ab Sigmaringen, von dort im dramatischen Morgenlicht an Felsen und Burgen und Felsen und Burgen vorbei, um Kurven und durch Tunnel. Die Busfahrt von Donaueschingen nach Titisee bot Gelegenheit, die Mitreisenden zu zeichnen, bis die Reise mit der Höllentalbahn ein spektakuläres Finale fand. Auf nur 25 km überwindet sie 600 Höhenmeter, fährt über alte Viadukte, durch enge Schluchten und noch engere alte Tunnel …

In Freiburg ging ich gleich zum „Wetzstein“. Auf den ersten Blick sah die Buchhandlung aus wie ich sie in Erinnerung hatte; beim näheren Hinsehen waren da doch schon Lücken in den Regalen und viel mehr eingeschweißte Bücher als vordem. Ich stapelte ein Buch aufs andere und bekam einen Leseplatz im Allerheiligsten neben der Goethebüste und den Erstausgaben angewiesen, las, blätterte, sortierte und bat am Ende darum, mir die gekauften Exemplare zuzuschicken, so viele waren es geworden.

Das Geschäft wirkte dieses Mal ein bisschen einschüchternd auf mich; die Buchhändler(innen) schauten streng durch ihre dunkel gerandeten Brillen (wirklich, man sah einander sehr ähnlich!) unter grauem Haar – mehr als eine kleine, unbeholfene Skizze bekam ich drinnen nicht zu Stande. Die Zeichnung holte ich von draußen nach, in eine Decke gewickelt und mit einem heißen Tee.


Von Meßkirch nach Wald

Zuerst fielen mir die Vögel auf den Antennen auf. Wann hatte ich zuletzt Antennen auf einem Dach gesehen? Das Haus darunter bemerkte ich später, als ich meinen Rundgang durch die überschaubare Innenstadt von Meßkirch beendet hatte. Ein Haus, das aussah wie die Abrisshäuser, in denen wir als Greifswalder Studenten gelebt hatten, in einer fernen, sagenhaften Zeit, in der ein Klohäuschen auf dem Hof zwar nichts Tolles, aber auch nichts Spektakuläres war.

Das Haus, dieses Meßkircher Haus, war seit der Plumpsklo- und Antennen-Zeit sichtlich nicht umgebaut worden, doch war es auch nicht gänzlich verfallen. Auf der kleinen Treppe, die zu Tür und Toilettenanbau führte, sah ich einen Oleander im Topf und eine ganze Batterie an Gießkannen – jemand nutzte diesen Ort. Wer, das bekam ich leider nicht heraus, doch ich nahm mir bis zum Dunkelwerden Zeit für Fensterbänke, Fachwerk und bröckelnden Putz. Zu Hause bin ich dann noch einmal mit Farbe darüber gegangen.

Am nächsten Morgen wandte ich mich der erhaltenen Architektur zu. Das Meßkircher Rathaus hatte ich schon den ganzen Morgen aus meinem Zimmerfenster betrachtet, und als die Putzfrau kam und ich ausziehen musste, setzte ich mich auf die Treppe darunter und zeichnete weiter: überquellendes Renaissance-Dekor, Säulen, Hermen, Schnecken, Wappen … Als sich der in der Bodenseeregion allgegenwärtige Nebel hob, war gleich noch einmal so viel davon zu sehen.

Gegen Mittag machte ich mich durch einen langen, herbstlich-heiteren Wald auf den Weg nach Kloster Wald. Das ehemalige Zisterzienserinnen-Kloster beherbergt heute eine Internatsschule, doch die Kirche ist der Öffentlichkeit zugänglich. In der fallenden Dämmerung zeichnete ich, was man in Barockkirchen immer reichlich findet: ein pausbäckiges, bubenhaftes Engelchen.

Alle drei Bilder sind in meinem schönen, aber leider wegen des quadratischen Formats etwas unpraktischen Stillman&Birn Softcover Beta Skizzenbuch auf mit etwas Aquarellfarbe vorgrundierten Seiten entstanden.


Beuron

Nachdem ich drei Tage lang über die Schwäbische Alb gewandert war, den Albtrauf hoch und das Bäratal entlang bis nach Bärenthal (nein, gesehen habe ich keinen, doch einsam genug wäre es gewesen), führte mich mein Weg zum Kloster Beuron. Das Kloster, das als „Erzabtei“ eine hervorgehobene Stellung unter den benediktinischen Klöstern einnimmt, wird von etwa 50 Mönchen bewohnt, die in besonderer Weise das benediktinische Stundengebet und den gregorianischen Gesang pflegen. Schon einmal, in der Obermainregion, hatte ich – sehr bewegt – diese Gebetsform als Gast in einem Kloster erleben dürfen.

Beuron bietet zudem einen beeindruckenden künstlerischen Rahmen. Analog zur Erneuerung der kirchlichen Liturgie hatte sich zum Ende des 19.Jahrhunderts eine Bewegung von bildenden Künstlern entwickelt, die an frühchristliche und byzantinische Formen anknüpften. Wie immer bei solchen Renaissancen ist auch hier etwas Neues entstanden – neben den archaischen Elementen hat das Ergebnis auch eine Anmutung von Jugendstil.

Die Beuroner Gnadenkapelle ist ein Gesamtkunstwerk, das ganz und gar im Geist dieser Künstlerschule geschaffen wurde. Ich habe dort einige Stunden zugebracht, meditierend, dem Gesang der Mönche lauschend und zum Schluss auch noch zeichnend. Mein Bild empfindet einen kleinen Teil der Apsisausmalung nach, wobei die Ornamentik im Original natürlich viel feiner, ziselierter und harmonischer ist. Ich habe wesentliche Teile der Zeichnung vor Ort auf einem farbig vorgrundierten Blatt begonnen – und bin zu Hause hoffentlich nicht der Versuchung erlegen, aus einem andeutenden Fragment eine realistische Abbildung machen zu wollen.

Als ich meinen Pilgerweg am nächsten Tag fortsetzen wollte, regnete es so stark und anhaltend, dass ich auf den Zug ausgewichen bin. So saß ich gegen Mittag auf dem kleinen Beuroner Bahnhof und hatte noch etwas Zeit, die Kalkfelsen im Herbstlaub zu skizzieren. (Auch hier: vorgrundiert und zu Hause nachgearbeitet.)


Auf der Schwäbischen Alb

Um auf der Schwäbischen Alb zu wandern, muss man erst einmal hinauf gelangen. Von Balingen, dem Endpunkt meiner letzten Pilgerstrecke, führt der Weg geradewegs 350 Höhenmeter den Steilhang hinauf, der hier „Albtrauf“ heißt. Der Weg führt durch abenteuerliche Landschaft voller Felsbrocken und wilder Vegetation, um dann unvermittelt auf einer Hochebene herauszukommen.

Erste Übernachtung auf der Alb war in Tieringen. Im Gegensatz zu vielen anderen Dörfern gibt es hier noch ein Hotel, einen Tante-Emma-Laden und eine Kneipe. Am Morgen hatte auch die Kirche geöffnet.

Abwärts ging es durch das Tal der Bära, durch hübsche und wenig zersiedelte Dörfer, dem nächsten Etappenziel Nusplingen entgegen.


Unterwegs

Seit vier Tagen bin ich wieder unterwegs, ein Tag Anreise und drei Gehtage, von Rothenburg o.d.T. südwestwärts über die Hohenloher Ebene, dem Jakobsweg folgend, der hier in der Gegend wiederum dem Schwäbischen Hauptweg Nr.8 folgt, eine für südwestdeutsche Verhältnisse dünn besiedelte Gegend mit ausgedehnten Waldgebieten.

Im Zug habe ich mir erst einmal damit die Zeit vertrieben, den Inhalt meiner Zeichentasche abzubilden.

 

Die Überraschung des ersten Wandertages war die Pflanzenwelt. Am frühen Nachmittag saß ich selig in einer Wiese voller z.T. hüfthoher Orchideen, besonders prächtiger Exemplare des Knabenkrauts.

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Bevor ich am nächsten Tag, gestern, aufbrach, trödelte ich noch ein bisschdn herum und versuchte dem Ort Schrozberg etwas liebenswertes abzugewinnen. Schließlich zeichnete ich, was ich sah – getreu dem Motto der Urban-Sketching-Bewegung – und das war in diesem Fall ein 70/80-Jahre Wohnblock mit tchibobrauner Ladenzeile gegenüber der geschlossenen Kirche.

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Gegenüber dem Pilgerrastplatz in Schrozberg, sozusagen das Ortszentrum.

Heute staunte ich nicht schlecht, als ich, kaum war ich von meiner Übernachtung im Tal wieder auf die Hochebene gestiegen, hinter den Bäumen ein paar Rotorblätter sich bewegen sah. Und wirklich: der fürstlich-hohenlohische Wald steht voller Windräder! Sie drehten sich heute nur langsam und sahen ein bisschen aus wie Wesen aus einer anderen Welt.

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Windräder im Wald, eine Überraschung.


Rückblick 2

Heute habe ich wieder ältere Skizzenbücher rin die Hand genommen, z.B. das von der 2.Etappe meiner Pilgerwanderung, einiges noch einmal neu gescannt und die alten Beiträge wieder gelesen – schon wieder zwei Jahre her …

Diese Etappe führte von Naumburg durch Saale- und Ilmtal über Weimar nach Erfurt.

Die Beschreibungen zu den Bildern finden sich in den einzelnen Blogbeiträgen.

 

 


Bergstadt

Bamberg hat so viel schönes Altes zu bieten, dass ein Aufenthalt von nur zwei Tagen einem Menschen mit Skizzenbuch immer wieder eine Auswahl aufnötigt. So hatte ich mich Ende Oktober für die Bergstadt entschieden, die sich oberhalb des Doms weit in die umgebenden Hügel erstreckt. Ausgedehnte ehemalige Klosteranlagen mit Kirchen, Gärten und Mauern geben dem Gelände eine altertümliche Struktur, auch wenn seit dem 19.Jahrhundert vieles davon säkular genutzt wird – als Museen, Kliniken und Parks.

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Blick vom Bamberger Jakobsberg zum Kloster Michelsberg.

Das Kloster Michelsberg – es hat als eine der ältesten Gründungen des Bistums gerade sein 1000jähriges Jubiläum gefeiert – ist vor allem bekannt durch den so genannten „Himmelsgarten“ – die Ausmalung des Gewölbes mit zahlreichen botanisch exakten Pflanzen. Ich hatte ihn vor einigen Jahren besichtigen können. Zur Zeit ist die Klosterkirche leider wegen schwerer Bauschäden bis auf weiteres gesperrt.

Ich hatte diese Malerei immer für einmalig gehalten und staunte nicht schlecht, auch das hochkomplexe spätgotische Zellengewölbe der Oeslauer Johanniskirche (nahe Coburg) mit solcher Bemalung geschmückt zu finden. (Auf meiner Zeichnung hatte ich mich allerdings auf das Gewölbe beschränkt.)

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In der Villa Remeis auf dem Bamberger Jakobsberg. Die Zeichnung ist vor Ort begonnen und fertig gestellt, weshalb ich auch den Herrn mittleren Alters, der ganz selig sein sehr kleines Enkeltöchterchen betrachtet, nur angedeutet habe.

Am nächsten Tag bin ich noch einmal auf den Jakobsberg gestiegen und habe in der Villa Remeis gerastet. Karl Remeis war ein Bamberger Astronom und Mäzen, in dessen ehemaligem Wohnhaus (von bescheidenen Ausmaßen, doch atemberaubender Lage) jetzt ein Café mit Weitblick zu finden ist.

 

 


Königliche Anmut

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Spätmittelalterliche Marienstatue aus dem Diözesanmuseum Bamberg.

Das englische Wort grace bedeutet sowohl Gnade als auch Anmut (die im Deutschen ja auch Grazie heißt), seine lateinische Wurzel gratia fügt dem noch den Dank hinzu. „Gegrüßt seist du, Maria, voll der Anmut“: Da ist die Muttergottes uns nördlichen Protestanten gleich nicht mehr ganz so unvertraut.

Diese Marienstatue begegnete mir im Diözesanmuseum in Bamberg, einem ruhigen Ort, an den ich mich aus dem Samstagsnachmittagstrubel des Doms zurückgezogen hatte. Bei aller Anmut hat sie auch etwas strenges, hoheitsvolles, königliches. Aus der Beschriftung erfahre ich, dass die Figur wohl die spätgotische Überformung eines älteren, vermutlich romanischen Kerns ist – aus einer Zeit, als die Madonna noch als strenge Himmelskönigin in herrscherlicher Pose dargestellt wurde. Auch das Jesuskind mag einmal „ernsthafter“ ausgehen haben als dieser Knabe, der seine Füßchen im ordentlichen Schleier der Mutter verheddert.


Durch die Mainauen nach Bamberg

Von Kirchschletten aus bin ich  bei schönem Herbstwetter Richtung Bamberg gelaufen. Anfangs war es richtig sonnig, später stellte sich eine verhangene, sanfte Stimmung ein, die gut zu den stillen und unerwartet schönen Dörfern in der Mainaue passte. Es sind sehr alte Siedlungsplätze, meist auf kleinen warftartigen Anhöhen gelegen.

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Blick auf Ebing am Obermain. Super5-Tinte und Wasserfarbe.

Am nächsten Tag war ich dann in Bamberg unterwegs. Am Bauernmarkt mit seinen vielen alten Apfel- und Birnensorten, mit Honig und Nüssen konnte ich mich gar nicht satt sehen.

Im Diözesanmuseum des Bamberger Doms (der Dom selbst war am Samstag Nachmittag rappelvoll, so dass ich mich dorthin zurückgezogen hatte), konnte ich mich ganz in Ruhe und auf Augenhöhe noch einmal mit Maßwerk beschäftigen. So habe ich dann auch verstanden, warum es so maßlos schwer zu zeichnen ist:  die aus Kreissegmenten zusammengesetzten Formen scheinen einfach, doch entsteht ihre Komplexität aus der Räumlichkeit mit den vielen Schrägen.

Beide Zeichnungen sind vor Ort entstanden und auch abgeschlossen, lediglich die Schrift unter dem Maßwerk habe ich später ergänzt.

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Skizze vom Bamberger Bauernmarkt in Tinte und Wasserfarbe. Das Maßwerk im Diözesanmuseum ist mit Bleistift gezeichnet.