Kleines Glück im Eis

Als ich am 11.Mai nach Wismar fuhr, hatten über Nacht die Eisheiligen begonnen. Ein eisiger Wind fegte den Himmel blau und bog die Bäume, an Zeichnen im Freien war kaum zu denken. Ich hatte mir dieses Mal St.Nikolai mit ihren zahlreichen Seitenkapellen, Altären und anderen Ausstattungsstücken vorgenommen. Am Ende entschied ich mich für ein Detail des riesigen Triumphkreuzes, das nach seiner Sicherung aus der einsturzgefährdeten Wismarer Georgenkirche hierher gekommen war.

Das Medaillon, etwa einen halben Meter hoch, bildet den unteren Abschluss des Kreuzes und symbolisiert den Evanglisten Matthäus. Beim Nachlesen habe ich erfahren, dass dies kein Engel, sondern ein „geflügelter Mensch“ ist – in Analogie zu den geflügelten Tieren der anderen drei Evangelisten (der bekannteste dürfte der geflügelte Markuslöwe sein, der später zum Wahrzeichen von Venedig wurde.)

Nachdem ich noch zwei Runden im Wind um die Kirche gedreht hatte, verabschiedete ich mich endgültig von der Idee, draußen zu zeichnen. Schon auf dem Hinweg hatte ich das „Café Glücklich“ ins Auge gefasst, und glücklich fand ich dort einen Platz am Fenster, einen heißen Kaffee und ein Stück luftig-leichter Torte.

Die erste Torte auswärts nach sechs Wochen Pause.

Der Blick aus dem Fenster fiel auf das „Schabbellhaus“, das Wismarer Stadtmuseum, und ich versuchte mein bestes, mich bei der üppigen Renaissance-Fassade nicht mit Details aufzuhalten.

Schabellhaus, Stadtmuseum Wismar, vom „Café Glücklich“ aus gesehen.

Am Abend war ich dann so gut „eingezeichnet“, dass ich am Rande einer Plauderei bei Freunden noch den Fleiderstrauß auf dem Tisch einfangen konnte.


Landpartie

Letztes Wochenende, bei diesem unglaublichen Wetter, waren wir auf Landpartie. Zwischen grünen Wiesen und unter tiefblauem Himmel, noch ohne Lerchen, so saßen wir: meine kleinen Großnichten selig auf einem Pferderücken und ich – nicht minder selig – mit Stift und Block in der Landschaft.

Birnbaum in Alt Jassewitz. Kugelschreiber und Aquarell.

Am Nachmittag trennten sich die Wege, und ich fuhr ein paar Kilometer weiter nach Hohenkirchen, das seinen Namen zu Recht trägt. Als eine weithin sichtbare Landmarke steht die wuchtige gotische Kirche etwas oberhalb des Dorfes auf einem Hügel; zeitlos, wie es scheinen will, als wäre sie schon immer da gewesen.

Die Dorfkirche von Hohenkirchen bei Wismar

Zu meiner Freude war die Kirche geöffnet. Drinnen erwartete mich eine Überraschung: ein frühmittelaterlicher Taufstein, sichtlich älter als die gotische Kirche. Vieles spricht dafür, dass diese Art von Taufsteinen sogar älter ist als das offizielle Datum der Chrisianisierung Mecklenburgs. Sie legen Zeugnis ab von Glauben und Ritus bäuerlicher Volksgruppen, über die wir nur wenig Gesichertes wissen.

Der frühmittelalterliche Taufstein in Hohenkirchen. Das rechts unten als „Zopf und Schleife“ bezeichnete Motiv könnte einen Lebensbaum symbolisieren.

Der Drache

Etwa elf Jahre alt muss ich gewesen sein, als ich im Ostberliner „Deutschen Theater“ mit  Jewgenij Schwarz‘ „Drachen“ so ziemlich das beste sah, was auf einer Theaterbühne möglich ist – und für schlechtes Theater  von nun an verloren war. Die Ostberliner Aufführung wurde von 1965 bis 1981 gespielt, auch auf Tourneen durch ganz Europa. Das Inselbändchen mit den Figurinen und Bühnenbildentwürfen sah ich mir immer wieder an, und auch die Moral von der Geschichte habe ich mit elf schon verstanden: dass die Menschen ihren Drachen in sich tragen.

Lanzelot, ein „berufsmäßiger Held“, kommt in die sprichwörtliche Kleine Stadt, die sich mit ihrem Drachen längst arrangiert hat. Auch die Jungfrau, die er sich dieses Jahr ausgesucht hat, begehrt nicht gegen ihr Schicksal auf, und bald muss der Drachentöter selbst um sein Leben fürchten …

Letztes Wochenende sah ich das Stück im Rahmen der „Klassikertage Wismar“ in der Wismarer Georgenkirche. Wie schon die Aufführungen der vergangenen Jahre („Faust“ und „Jedermann“) war es rundum gelungen; poetisch, ohne sentimental zu sein, werkgetreu, traurig und lustig, von hervorragenden Schauspielern getragen (deren ältere weitgehend noch jener DDR-Theaterkultur entstammen, die die damalige legendäre Inszenierung hervorgebracht hat) und von hohem Schauwert. (Nur einen bühnenfüllenden Theatermaschinendrachen gibt das Budget eines freien Sommerfestivals nicht mehr her.)

Und weil es ein Märchen ist, geht am Schluss natürlich alles doch noch gut aus.


Jedermann

Vor zwei Wochen hatte ich das große Vergnügen, in Wismar die „Jedermann“-Aufführung in der Georgenkirche sehen zu dürfen. Die Kirche als solche ist schon einen Besuch wert. Meine Freude wurde noch gesteigert, weil das Tageslicht und die robuste Akustik es mir ermöglichten zu zeichnen. Auf dem Bühnenbild sieht man im Hintergrund ein gewaltiges Rad, vielleicht in Anlehnung an die Tretmühlen, die man einst zum Kirchenbau verwendete. Sein Äquivalent steht im Vordergrund: ein mannshoher Tresor mit Drehrad zum Öffnen.

Bühnenbild der "Jedermann"-Aufführung in Wismar.

Bühnenbild der „Jedermann“-Aufführung in Wismar. Im Hintergrund das Rad der Fortuna, vorn ein mannshoher Tresor. 


Beim Heiligen Geist

Vor zwei Wochen war ich in Wismar und hatte zwei Nachmittagsstunden Zeit zum Zeichnen. Kurz hinter der Heilig-Geist-Kirche fiel mir ein hübsches neugotisches Portal ins Auge, und als ich hindurch auf den Hof ging, war ich ganz verzaubert. Ich stand auf der Rückseite der Kirche, zwischen den alten Mauern blühten Malven, ein Brunnen spendete Wasser und dichte alte Bäume Schatten. Ein Teil der umgebenden Häuser wirkte wie ein kleines Altersheim oder eher eine betreute Wohnanlage.

Es war ein wunderbar stiller und aus der Zeit gefallener Ort, und ich erinnerte mich, dass ich vor über dreißig Jahren in Greifswald in „St.Spiritus“ ein ganzes Frühjahr lang an einem ähnlichen Platz für meine Prüfungen gelernt hatte. Die pittoresken winzigen Häuschen waren auch in den 80ern schon Museum, aber durch eine Tür in der Nebenstraße gelangte man in den Hinterhof des Hospitalhofes, mit Blumenbeeten und einem Gartentisch, an dem außer mir nie jemand saß.

Ich erinnerte mich auch an ähnliche Hospitäler in anderen Hansestädten, das prächtige Heiligen-Geist-Hospital in Lübeck und das Johanniskloster in Stralsund, wo ich 1980 noch die puppenstubenhafte Wohnung der letzten Bewohnerin des so genannten Räucherbodens besuchen durfte. Auch dieser Ort verströmte damals die Atmosphäre von Zuflucht und zeitloser Stille wie der Heilig-Geist-Hof in Wismar heute noch.

Hof des Heiligen-Geist-Hospitals in Wismar. Zeichnung mit Super5-Tinte in S&B Beta, koloriert mit Wasserfarbe.

Hof des Heiligen-Geist-Hospitals in Wismar. Zeichnung mit Super5-Tinte in S&B Beta, koloriert mit Wasserfarbe.