Rückblick – Tangermünde

Die Radreise entlang von Elbe und Havel liegt fast eine Woche zurück. Die Radtaschen waren ausgepackt worden, der Inhalt schnell im Rucksack verstaut, mit dem es auf eine zweite, weit kürzere Tour ging … Nun, wiederum auf der Heimreise im Zug, ist Gelegenheit, die Tradition der Rückblicke wieder aufzunehmen. (Wie machen das die Leute nur, die immer alles vor Ort fertig zeichnen?)

Mit Wilsnack, Havelberg und Werben war ich bereits drei Orten begegnet, die im Hoch- oder Spätmittelalter eine weit über ihre jetzige Bedeutung hinausgehende Rolle gespielt hatten, Tangermünde reiht sich hier ein. Der aus Böhmen stammende Kaiser Karl IV., der Prag zu einer modernen Residenz ausbauen ließ, hatte auch mit Tangermünde große Pläne (über die Elbe waren die beiden Städte unkompliziert miteinander verbunden), er machte sie zu seinem Zweitsitz und wollte von hier aus die nördlichen Provinzen des Reiches regieren.

Die Zeitläufte verhinderten, dass es dazu kam; zurück blieb eine wohlhabende Handelsstadt, die trotz eines großen Stadtbrandes im 17.Jahrhundert ihr schönes gewachsenes Stadtbild erhalten konnte.

Das Rathaus von Tangermünde zeugt, wie andere Rathäuser dieser Zeit, vom bürgerlichen Selbstbewusstsein der Epoche am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Architektonisch gehört es noch ganz zur Gotik in einer späten, überreifen Form. Die Schaufassade ist ganz und gar aus in kunstvollen Formen gefertigten, z.T. farbig glasierten Maßwerkziegeln gemauert.


Intermezzo: Stendal

Auf dem Weg nach Tangermünde hatte ich ein paar Stunden in Stendal eingeplant. Es war Montag (also schon wieder ein paar Tage her), grau, kühl und windig. (Bald würde ich mich über Sonne von vorn beklagen …) Am Markt rüttelte ich vergeblich an der Tür der Marienkirche. Als ich mich schon zum Gehen wenden wollte, kam eine Küsterin und es gelang mir, mit hineinzuschlüpfen.

Sofort fiel mir das mittelalterliche Taufbecken auf. Es ist mit wunderbar ausgeführten Heiligenfiguren geschmückt – „die weiblichen Heiligen größer dargestellt als die Männer!“ erklärte mir die Küsterin strahlend. Als erstes fielen mir die Füße des Gefäßes auf. Sie symbolisieren die vier Evangelisten in den seit der Antike üblichen Symbolen: Mensch, Stier, Löwe und Adler. Meist werden sie, einer biblischen Vision folgend, als geflügelte Wesen dargestellt. Hier aber waren die drei Tiere als Menschen mit Tierköpfen dargestellt, was ausgesprochen seltsam anmutete, für uns heutige vielleicht wie eine Kinderbuchillustration. Gezeichnet habe ich den „Stier“.

Danach setzte ich mich auf den Marktplatz und zeichnete mit zügigen und nach einwöchiger Reise langsam sicher gewordenen Strichen die Kirche.

Auch den Stendaler Dom sah ich mir noch an und saß lange im Chor, der mit vollständig erhaltenen mittelalterlichen Buntglasfenstern versehen ist. Man sieht das heute nur noch selten, oft sind nur Fragmente oder einzelne Fenster verglast, was die Wirkung mindert. Hier war der Raumeindruck ein überwältigender – Edelsteinlicht, zeichnerisch nicht zu erfassen.


Wilsnackfahrt

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.

Prediger 3,1

Nach zwei geruhsamen Fahrradtagen entlang der Elbe verbrachte ich einen Tag in Bad Wilsnack. Bahnfahrende kennen den Ort als Station an der Regionalstrecke Berlin-Schwerin, aber sonst? Wer weiß schon, dass Wilsnack im ausgehenden Mittelalter ein Pilgerort von überregionaler, ja internationaler Bedeutung war? In Nordeuropa war es einhundertfünfzig Jahre lang Santiago ebenbürtig.

Verehrt wurde nicht der Heilige Jakobus, sondern ein sogenanntes Blutwunder. Das Dorf Wilsnack war 1383 im Rahmen einer Fehde niedergebrannt worden – eine üble und weit verbreitete Angewohnheit kleinadliger Wichtigtuer. Als man in den Resten der Kirche nach Verwertbarem stocherte, fand man drei unversehrte und blutende Hostien – so geht die Legende. Ob es hier einen bakteriologischen Hintergrund gab oder der Ortspfarrer sich die Geschichte schlichtweg ausgedacht hatte, um dem Wiederaufbau seiner Kirche aufzuhelfen, lässt sich heute nicht mehr klären; erwiesen ist, dass bald diverse Wunder geschahen und und die Angelegenheit schnell an Tempo gewann.

Eine Pilgerfahrt wurde im Mittelalter nicht zu Selbstfindungszwecken unternommen. Meist versuchte man, etwas für sein Seelenheil zu tun – nichts fürchtete der mittelalterliche Mensch so sehr wie die Strafen der Hölle. Durch Pilgern konnte man die Chance auf einen guten Ausgang verbessern. Es war also häufig etwas, das wir heute vielleicht als Buße bezeichnen würden, selbst- oder fremdverordnet. Letzteres kam häufig vor, bei schweren Straftaten wie Totschlag ebenso wie bei Wirtshausrandale oder ähnlichem. Die Pilgerfahrt wurde angeordnet wie heutzutage zwanzig Tagessätze.

Entsprechend ruppig wird es vermutlich in den Pilgergruppen zugegangen sein. (Es gab natürlich auch „ordentliche“ Pilger.) Ein besonderes Phänomen war das „Wilsnacklaufen“, Züge von meist sehr jungen Menschen, die an Massenhysterie denken lassen, an „Kinderkreuzzüge“ und vor allem daran, wie wenig wir über das Mittelalter wissen.

Die Kirche von Wilsnack im Morgenlicht, gezeichnet auf grau getöntem Aquarellpapier von Bockingfort.

Die Einnahmen aus all dem erlaubten bald den Bau einer neuen schönen Wallfahrtskirche, und als im 15.Jahrhundert zehntausende Pilger kamen, legte man noch einmal nach und erweiterte den Bau noch einmal – bis die Reformation dem Spuk ein Ende machte. Da stand er nun, ein riesiger halbfertiger turmloser Kasten, der erst 1591 mit einem Renaissance-Giebel verschlossen wurde. Bald darauf begann der Dreißigjährige Krieg, an dessen Ende Wilsnack fast entvölkert war.

Im Laufe der Jahrhunderte entsann man sich der Kirche, renovierte und restaurierte nach dem Geschmack der jeweiligen Zeit. Von außen wirkt sie intakt, wenn auch nicht besonders harmonisch; im Innern auf eine angenehme Weise provisorisch. Es gibt in dem riesigen Gebäude mehrere kleine Ausstellungsinseln, Kinderbastelecken, Büchertische; keine Bänke, sondern einfache Veranstaltungsstühle und von denen auch nicht so viele. Ich fühlte mich willkommen geheißen.

Die alten Statuen vom Südportal der Kirche.

In einer Wandnische stehen die Originale einiger alter Statuen von der Außenseite der Kirche, die man durch neue Kopien ersetzt hat. Diese hier rührten mich an: „Christus als Weltenherrscher“ und „Maria Himmelskönigin“, beide verrußt, beschädigt und auf Augenhöhe gebracht – – – Es waren zwei meditative Stunden, die ich vor ihnen zubrachte, im Angesicht ihrer Fragilität und Größe.


Alle Wege sind Pilgerwege

Sind sie das, wirklich? Oder ist dieser Satz von der gleichen popkulturellen Beliebigkeit wie „Der Weg ist das Ziel“?

Im letzten Jahr, auf der großen Wanderung durch die Ostschweiz, habe ich viel darüber nachgedacht, was einen Pilgerweg ausmacht. Die Gegend ist es nicht und nicht einmal das „heilige“ Ziel – doch was ist es dann?

Dieser Herbst bietet mir – aufs Neue – eine Gelegenheit, es herauszubekommen. Nach einigen Umbrüchen im Leben bin ich zum ersten Mal mit dem (Elektro)Fahrrad unterwegs. Es ist ein Unterschied, die Füße nicht mehr auf dem Boden zu haben, die eigene Ausstattung nicht mehr von die Größe eines (möglichst kleinen) Rucksacks dabei zu haben, sondern sich Gedanken um Schlösser und Ladegeräte machen zu müssen.

Glockenstuhl der Dorfkirche in Kraak, südlich von Schwerin #dorfkircheninmecklenburg

Der Start konnte schon mal einen Pluspunkt verbuchen: ich bin direkt von zu Hause losgefahren. Nach einem schönen Stillleben-Abend bei einer Freundin in Sülstorf, zwei Dörfer hinter Schwerin, fuhr ich direkt nach Süden. Sülstorf hat eine wunderschöne kleine Dorfkirche, die ich allerdings schon zweimal gezeichnet hatte. Also sah ich mich im nächsten Ort um: typisch für diese Gegend ein turmloses Kirchlein mit freistehendem Glockenstuhl. Dieses Kirchlein gehörte im Mittelalter zu einer Johanniter-Niederlassung, einer sogenannten Komturei (ein Wort, das ziemlich nach Ritterroman klingt, finde ich.)

Es ging weiter durch den Jasnitzer Forst, ein ausgedehntes Waldgebiet, das in diesem Jahr von Pilzen überquillt. Leider konnte ich sie in meinen fest verzurrten Taschen nicht unterbringen, also zeichnete ich einiges von dem, was rund um meinen Rastplatz zu finden war. (Darunter befindet sich der Gasspeicher Kraak, der nicht nur ganz Meckpomm, sondern auch Hamburg versorgt. Das Private ist politisch, sogar im Wald.)

Pilze im Jasnitzer Forst. Oben der Graugrüne Milchling, dank Täublingsregel (die auch für Milchlinge gilt) ein Ausschlusskandidat: die Milch schmeckt brennend scharf. Unten zwei, die gern verwechselt werden, was nichts macht, denn sie sind beide essbar (und geschmacklich eher langweilig): der Rotfußröhrling und die Ziegenlippe.

Und das Stillleben vom ersten Abend? Soll auch seinen Platz bekommen. Die Paprika hatte ich zwei Wochen vorher am Strauch gezeichnet, und dort hatten sie sich gut gehalten.


Media vita in morte sumus

Der heutige Tag gehörte der Stiftsbibliothek von St.Gallen, einer der größten Sammlungen mittelalterlicher Handschriften und Artefakte weltweit und der einzigen Klosterbibliothek, deren Bestände seit dem sehr frühen Mittelalter (um 700) in großer Zahl erhalten sind. Zuerst ging ich in den barocken Bibliothekssaal, der mit seinen geschmückten Galerien und seinen honigfarbenen Holzpaneelen als solcher schon sehenswert ist. In diesem Saal gibt es Wechselausstellungen originaler Bücher und Handschriften, in diesem Jahr lautete das Thema „Gebet“.
Ich machte gar nicht erst den Versuch, mir alles anzusehen, auch den Audioguide steckte ich schnell wieder in die Tasche, sondern verweilte nur bei wenigen Vitrinen. Zuerst waren es die berühmten illustrierten Stundenbücher aus dem Spätmittelalter, die mich anzogen – ich war erstaunt, wie winzig manche waren, kleiner als A6, die Malereien schon Miniaturen…Und dann fand ich das Antiphonar, das der Mönch Hartker um 1000 herum, also hunderte Jahre vor den hübschen Luxusprodukten, geschrieben hatte. Es handelt sich um ein dickes Buch, in dem gesungene Stundengebete – sogenannte Antiphone – aufgeschrieben sind. Aufgeschlagen war das Buch auf der Seite mit den berühmten und vielfach vertonten Zeilen „Media vita in morte sumus“ – häufig übersetzt mit „Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben“. Ich war diesem Satz auf dieser Reise schon einmal begegnet, bei dem anrührenden kleinen Denkmal für die Opfer des Flugzeugunglücks von 2002. Hier erfuhr ich nun, dass die St.Galler Mönche die Zeilen täglich gesungen haben.


Die Zeichenbedingungen waren denkbar ungünstig. Zum einen herrscht aus konservatorischen Gründen Dämmerlicht im Raum – man sieht also kaum, was man gezeichnet hat. Fotografieren ist verboten. (An meinem Zeichnen, natürlich nur mit trockenen Medien, hat sich niemand gestört). Die Farbe habe ich später ergänzt. Besonders gefreut habe ich mich, dass ich die Handschrift online gefunden habe (viele alte Handschriften sind bereits digitalisiert und öffentlich zugänglich)und und so einen Versuch wagen konnte, Hartkers karolingische Minuskel nachzuempfinden.


Am Ende des Mittelalters

Das Wernigeröder Rathaus ist so gotisch, dass es einem Disney-Film entsprungen sein könnte. Übertrieben spitze Türmchen, vorkragende Erker und riesige Wasserspeier verleihen ihm ein märchenhaftes Aussehen. Gebaut wurde es ursprünglich nicht als Rat- sondern als „Spielhaus“, eine Art frühes Theater für Fastnachtsspiele und ähnliche Aufführungen; natürlich wurde der große Saal im Innern auch für andere Zwecke genutzt – eine echte städtische Mehrzweckhalle. Später hat man es mehrfach umgebaut und nach einem Brand des alten zum neuen Rathaus umgewidmet.

Ich saß in meinem Urlaub mehrfach in einem Café an der Ostseite des Marktes und zeichnete die berühmte Fassade von der Seite. Dieses Bild ist – in zwei Sitzungen – vorwiegend vor Ort entstanden, zu Hause habe ich nur noch ein bisschen nachkoloriert.


Hinter Schloss und Riegel

Nach zwölf Gehtagen habe ich mein Ziel erreicht, ich bin in Rothenburg ob der Tauber angekommen. Die erste Zeichnung gilt – wie es sich für eine Pilgerin gehört – der Jakobskirche. Im Vergleich zum Trubel draußen ist es hier drinnen leer und still, dennoch ist es ein mehr musealer als spiritueller Ort. Was also zeichnen? Nach einigem Umsehen finde ich links neben dem Hauptaltar eine Sakramentsnische mit reichem Skulpturenschmuck aus Sandstein; teilweise ist die ehemals kräftig farbige Bemalung gut zu erkennen. Die zahlreichen Details fordern mich auf, mir mit dem Zeichnen Zeit zu lassen, und ich komme der Aufforderung gern nach: schließlich habe ich sie ja, die Zeit, zwei lange Tage nur für Rothenburg.

Die linke Seite, die lavierte Federzeichnung der Skulptur des Johannes, entsteht weitgehend vor Ort; die Bleistiftzeichnung auf der rechten Seite überarbeite ich später mit wasserlöslichen Graphitstiften und etwas Wasserfarbe.

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Sakramentstür in der Jakobskirche von Rothenburg o.d.Tauber.

Dass es sich um eine Sakramentsnische handelt und was genau das ist, muss ich mir auch erst erlesen. Hinter der knapp mannshohen Tür mit eindrucksvollem „Schloss und Riegel“ bewahrte man im Hochmittelalter die geweihten Hostien auf. Nach damaliger Vorstellung – die in der katholischen Kirche bis heute fortdauert – ist in der geweihten („konsekrierten“ Hostie) Christus leibhaftig anwesend. Diese Hostien werden nicht nur als besonders verehrungswürdig angesehen, sie bedürfen auch eines Schutzes vor jeder Form von Entweihung. Besonders in jener Zeit, in der die dicke Sakramentstür entstand, erzählte man sich gruslige Geschichten über Menschen, die Hostien entweihten und für ihre eigenen magischen oder finsteren Zwecke missbrauchten.

Beim Zeichnen – auch später zu Hause noch – habe ich viel Zeit, über die Eucharistie, die „Danksagung“ nachzudenken, über die Anwesenheit des Heiligen, über den Unterschied zwischen Körper und Leib, über Symbole und Zeichen … Das Bildprogramm konnte ich nur zum Teil entschlüsseln. Johannes – der wohl eine Art Hybrid aus Johannes dem Täufer und Johannes, dem Autor der Offenbarung, ist – verweist auf den kommenden Christus, der in Gestalt eines Lammes auf einer großen Hostie abgebildet ist. Die Frau auf der rechten Seite trägt eine – nicht mehr vollständig erhaltene – Krone, in der Hand hält sie einen Abendmahlskelch, in dem sich ebenfalls eine Hostie befindet. Ihr offenes Haar weist sie als Jungfrau aus. Von mir nicht abgebildet, steht ihr auf der anderen Seite der Nische eine Frau mit einem Salbgefäß gegenüber. Krone und offenes Haar könnten an Maria denken lassen, doch wäre die Darstellung mit Kelch und Hostie sehr ungewöhnlich. Vielleicht bekomme ich es noch heraus.


Heilsbronn

Zwanzig Kilometer südwestlich des Nürnberger Stadtrandes, wo der Speckgürtel schon in landwirtschaftlich geprägtes Irgendwo übergegangen ist, liegt das Städtchen Heilsbronn. (Nicht zu verwechseln mit Käthchens Heilbronn 100 km weiter westlich  und an die zwanzig Mal größer.)

Heilsbronn, das kleine, ist dennoch durch feine Fäden mit der Weltgeschichte verbunden. Im Mittelalter stand hier ein bedeutendes Zisterzienser-Kloster, ein regionales politisches Zentrum, dessen Mönche für das Seelenheil der ansässigen Adligen beteten, die dann auch in der Klosterkirche bestattet wurden – und wo so eine Grablege der Hohenzollern entstand, jenes Fürstengeschlechts, das später die preußischen Könige und die drei letzten Deutschen Kaiser hervorbringen würde.

Als ich an einem heißen Juninachmittag die Kirche betrete, verschlägt es mir den Atem, kurz schießen mir die Tränen in die Augen. Nach all den barockisierten gotischen Dorfkirchen, nach den modernen Gemeindezentren der Nürnberger Vorstädte ist der Raumeindruck überwältigend: reine Romanik, Hirsauer Reform, ein paar gotische Anbauten, alles Barocke und Spätere entfernt. (Von den Hohenzollerngräbern abgesehen, die, eingezäunt, ein Areal für sich bilden.) Und, womit ich nicht gerechnet habe, diverse hoch- und spätgotische Plastiken und Altäre, alle klug präsentiert in dem minimalistischen Raum.

Alles anzusehen, zu würdigen, womöglich zu zeichnen, bräuchte ich einen ganzen Tag. So bleibt es beim zeichnerischen Versuch, den Raum zu erfassen, und, am nächsten Morgen schon, einer fragmentarischen Skizze des Portals. Den Grundriss füge ich dann zu Hause an.

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Blick in das Mittelschiff der Heilbronner Klosterkirche. Perspektive und erste Schraffuren vor Ort, weiter ausgeführt und koloriert zu Hause. Die Schrift ist ein Versuch, im Stil einer karolingischen Minuskel zu schreiben.

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Am nächsten Morgen zeichne ich noch, fragmentarisch, das Hauptportal der Kirche.

 


Wie im Märchen

Sieht sie nicht aus wie aus einem Märchenbuch, die Lichtenfelser Kirche? Gleich schaut der Turmwächter aus dem etwas schiefen Türmchen in der Mitte, um auf seiner Trompete den Tross des Königs anzukündigen …

Gezeichnet habe ich das Bild (die Farbe kam später), als mich der wieder aufgekommene Regen unter das Dach einer restaurierten mittelalterlichen Stadtmauer gescheucht hatte. Leider war es danach mit der Romantik ganz und gar vorbei und ich stapfte zwei oder drei Kilometer im Regen einen Autobahnzubringer entlang …

Kirche von Lichtenfeld in Oberfranken. Super5-Tinte und Wasserfarbe.

Kirche von Lichtenfeld in Oberfranken. Super5-Tinte und Wasserfarbe.


A wie Anna

Initial A nach Motiven einer mittelalterlichen Gewölbemalerei in der Dorfkirche Bellin, Mecklenburg.

Initial A nach Motiven einer mittelalterlichen Gewölbemalerei in der Dorfkirche Bellin, Mecklenburg.

Unter meinen Belliner Skizzen war auch eine Detailstudie der floralen Ranken um die Gestalt der heiligen Anna herum. Zu Hause kam ich auf die Idee, daraus ein Blatt im Stil mittelalterlicher Buchmalerei zu gestalten. Ich wandelte Annas Gewand und Fuß in ein A-Initial, passte die Ranken an dessen Form an und ergänzte die Schrift in einem halbwegs in die Entstehungszeit der Kirche – Frühgotik – passenden Stil. Als Vorbild wählte ich mir das Schriftbild aus dem Evangeliar Heinrichs des Löwen, das sich allerdings unter meinen Händen deutlich modernisierte – Plagiate sind gar nicht so einfach!

Doch war ein Plagiat auch gar nicht Sinn der Übung, eher eine Transkription des gefundenen Motivs. Bei den Ranken gelang das relativ leicht, das Initial allerdings würde sich so vermutlich in keinem mittelalterlichen Buch finden, die Formensprache einer Gewölberippe unterscheidet sich von der eines Buchstabens doch erheblich. Außerdem hat man für ein quadratmetergroßes Fresko natürlich ganz andere Farbtöne – preiswerte Erd- und Rußtöne – gewählt als für eine kostbare Miniatur mit Malerei in Scharlach, Gold und Lapislazuli.

Ich jedenfalls habe mir mit diesem frühgotischen Zentangle  eine große Freude gemacht – denn ich liebe Kalligraphie und mittelalterliche Handschriften.