Rückblick – Kloster Lehnin

So, wie sich die Stadt Brandenburg „an der Havel“ in den offiziellen Ortsnamen schreiben ließ, um sich vom Land gleichen Namens zu unterscheiden, wählte das Örtchen Lehnin „Kloster“ als Namenszusatz – die Unterscheidung zielt auf einen Revolutionsführer. Der Ortsname wird, Nahewohnende wissen das, auf der zweiten Silbe betont. Wie Schwerin oder Genthin. Oder Berlin. Eigentlich kann man da gar nichts verwechseln.

Natürlich gibt es in Kloster Lehnin ein Kloster. Oder gab, je nach Blickwinkel, denn Mönche leben hier seit fünfhundert Jahren nicht mehr. Es war ein Zisterzienser-Kloster, das erste in der Mark Brandenburg, zu deren Entstehung und Konsolidierung es beitrug. Die Zisterzienser verstanden es, Glaubensstrenge und Askese eines Reform-Ordens mit Geschäftssinn und politischem Kalkül zu verbinden. Auf dieses Weise wurden sie zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor.

Bekannt waren sie für ihre Neugründungen in Sumpfgebieten. Gelegentlich kann man lesen, dies sei von dem Wunsch angetrieben gewesen, den Tod immer vor Augen zu haben, denn das Leben im Sumpf war ungesund. Ich tendiere eher zu der These, dass Sumpfregionen neben abgelegenen Berggegenden die einzigen waren, die im bereits weitgehend landwirtschaftlich erschlossenen Mitteleuropa die erwünschte Abgeschiedenheit boten. Wie dem auch sei – Lehnin zeigte ideale Bedingungen und ist auch heute noch von Seen und Feuchtgebieten umgeben.

Zwischen Sumpf und See war ich auf überraschend gut ausgebauten Radwegen von Brandenburg her angeradelt gekommen. Als der Nebel sich hob, lag wieder einmal – es würde noch ein paar Tage so bleiben – eine absurde Wärme über dem herbstlichen Land. Etwas erschöpft schlenderte ich über das weitläufige Gelände, verweilte in der Kirche und im Apfelgarten und blieb schließlich vor dem „Königshaus“ sitzen.

Das Königshaus, in der Bauzeit ein Hospital, erhielt seinen Namen, als König Friedrich Wilhelm IV. das Gebäude kaufte, um es vor dem Abriss zu bewahren. Die Klosteranlage war zu diesem Zeitpunkt, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in einem bedauernswerten Zustand – die Kirche halb zerfallen und die schönen mittelalterlichen Profanbauten mehr schlecht als recht landwirtschaftlich genutzt. Das änderte sich 1911 mit dem Einzug der Diakonissen, die den zisterziensischen Geist des „ora et labora“ neu belebten. Da war die Kirche schon wiederaufgebaut, eine vorbildliche Leistung des frühen deutschen Denkmalsschutzes.

Der Ostchor, den ich hier gezeichnet habe, hat noch originale Bausubstanz, auch wenn der romanische Raumeindruck durch Um- und Einbauten verwischt ist. Das traditionelle Lebensmodell der Diakonissen ist fast verschwunden, auch in Lehnin leben keine mehr. Es gibt ein Hospiz, eine Rehaklinik und ein Tagungszentrum; Einrichtungen, denen man wünscht, dass etwas vom Geist des „Dienstes“ in ihnen überleben möge.

Inzwischen sind vier Wochen vergangen, morgen ist der erste Advent und mein Rückblick endet. Von Lehnin aus war ich über Potsdam und Berlin-Spandau, in weiten Teilen dem Mauerradweg folgend, nach Oranienburg gefahren. In diesen Teil der Reise gehörten zahlreiche Begegnungen, mit Verwandten, mit alten Freunden und mit Erinnerungsorten … Die wenigen Zeichnungen, die doch noch entstanden waren, habe ich schon gezeigt.


Rückblick – Brandenburg an der Havel

In Jerichow bog ich nach Osten ab. Der Weg führte über Dörfer mit so hübschen Namen wie Altenklitsche und Zabakuck, vorbei an kleinen Versionen der Jerichower Kirche – die Bautrupps waren nach Fertigstellung anscheinend noch ein paar Jahre in der Gegend geblieben – , über wenig befahrene Landstraßen ins Land Brandenburg hinein. Die Strecke war länger als gedacht, nicht alle geplanten Wege befahrbar und als ich endlich in Milow an der Havel ankam, wurde es schon dunkel.

Von hier ab folgte ich am nächsten Tag dem Havelradweg. Der ließ, anders als der Elbeweg, außerhalb der Orte nur gelegentliche Blicke auf den immer noch in Altarmen sich schlängelnden und von breiten Schilfgürteln umgebenen Fluss zu. Zum Zeichnen war, wie so oft, die Zeit zu knapp bemessen, auch dort, wo es schön wurde, wo es über Fähren und Brücken ging, den Spuren Fontanes zu folgen gewesen wäre oder es alte Industriearchitektur zu bestaunen galt. Ich quälte mich durch den Freitagsnachmittagsverkehr in der Brandenburger Innenstadt, um endlich glücklich auf der Dominsel anzukommen.

Es waren Tage von herbstlicher Taglänge und sommerlicher Wärme. Ich hatte es gerade noch geschafft, vor Schließung des Doms einen Rundgang zu machen, auch die kostbaren Handschriften im Dommuseum zu bewundern, dann setzte ich mich zum Zeichnen vor ein Restaurant. Rasch begann es zu dämmern, das Gemäuer leuchtete im sinkenden Licht, doch als die Straßenlampen angingen, musste ich mit dem Zeichnen pausieren.

Heute habe ich das Bild nun fertig gestellt (es war schon recht weit gediehen, benötigte nur noch eine letzte Schicht Farbe) und mich an den Zauber dieses Moments erinnert, an die besondere Stimmung in dem umschlossenen Domhof, an die Ausstrahlung des vielfach umgebauten und erweiterten Doms, der immer ein politischer, kein spiritueller Ort gewesen war, ein Machtzentrum an der Schnittstelle zwischen Staat und Kirche. Am nächsten Morgen war noch Gelegenheit, den Dom einmal zu umrunden, einen Abschiedsblick hineinzuwerfen, dann stieg ich, schmerzlich viel Ungesehenes, Ungezeichnetes, Ungewürdigtes hinter mir lassend, aufs Rad Richtung Kloster Lehnin.


Rückblick – Jerichow

Diese alten Kirchen sind versteinerte Psalmen. In solcher Kirche kann die Predigt zur Not wegfallen, weil die Steine predigen.

Wilhelm von Kügelgen

In Jerichow, gegenüber von Tangermünde in Elbnähe gelegen, steht eine solche Kirche. Bis auf die gotisch zugespitzten Türme ist es ein klassisch romanischer Bau, der eindrucksvoll aus der flachen Elbniederung ragt. Ich kam am Nachmittag dort an, es war still, auf dem weitläufigen Gelände mit Klostergarten, Wirtschaftsgebäuden und Museum fanden sich nur wenige Besucher.

Als ich die Kirche betrat, erinnerte ich mich an den Satz von Kügelgen: Ich habe selten einen so harmonisch proportionierten, erhabenen Raum gesehen. Ich verweilte ein wenig dort, durchrundete die Anlage und kam wieder, um bis zum eindunkeln zu zeichnen.

Der Raum mit seinen romanischen Proportionen ist ausnahmsweise kein Resultat von Um- und Anbau, von Zerstörung und Wiederaufbau; kaum ein anderes romanisches Bauwerk hat nach seiner Errichtung so wenig spätere Veränderungen erfahren wie die Stiftskirche von Jerichow. (Stiftskirche ist der korrekte Ausdruck, denn die Anlage war kein Kloster, wenn es auch architektonisch nicht von einem solchen zu unterscheiden ist, seine Bewohner waren „Chorherren“, adlige Priester und keine Mönche.)

Was uns mit seiner zeitlosen Harmonie berührt, ist bautechnisch das Produkt einer Revolution: der erste Bau im Norden Deutschlands, der aus gebrannten Ziegeln errichtet wurde. Diese Technik war im Mittelmeerraum weithin gebräuchlich gewesen, doch in den Wirren der Völkerwanderungszeit vielfach in Vergessenheit geraten; oberitalienische Bauleute brachten sie hierher, von hier verbreitete sie sich in ganz Nordeuropa.

Am nächsten Morgen war ich schon vor der Öffnung an der Kirche. Es entstand eine schnelle Skizze, bevor ich hineinging, noch einmal den Raum in mich aufnahm, hier und dort noch ein paar Striche probierte und zum Schluss doch Fotos machte, bis ich mich endgültig trennen musste …


Rückblick – Tangermünde

Die Radreise entlang von Elbe und Havel liegt fast eine Woche zurück. Die Radtaschen waren ausgepackt worden, der Inhalt schnell im Rucksack verstaut, mit dem es auf eine zweite, weit kürzere Tour ging … Nun, wiederum auf der Heimreise im Zug, ist Gelegenheit, die Tradition der Rückblicke wieder aufzunehmen. (Wie machen das die Leute nur, die immer alles vor Ort fertig zeichnen?)

Mit Wilsnack, Havelberg und Werben war ich bereits drei Orten begegnet, die im Hoch- oder Spätmittelalter eine weit über ihre jetzige Bedeutung hinausgehende Rolle gespielt hatten, Tangermünde reiht sich hier ein. Der aus Böhmen stammende Kaiser Karl IV., der Prag zu einer modernen Residenz ausbauen ließ, hatte auch mit Tangermünde große Pläne (über die Elbe waren die beiden Städte unkompliziert miteinander verbunden), er machte sie zu seinem Zweitsitz und wollte von hier aus die nördlichen Provinzen des Reiches regieren.

Die Zeitläufte verhinderten, dass es dazu kam; zurück blieb eine wohlhabende Handelsstadt, die trotz eines großen Stadtbrandes im 17.Jahrhundert ihr schönes gewachsenes Stadtbild erhalten konnte.

Das Rathaus von Tangermünde zeugt, wie andere Rathäuser dieser Zeit, vom bürgerlichen Selbstbewusstsein der Epoche am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Architektonisch gehört es noch ganz zur Gotik in einer späten, überreifen Form. Die Schaufassade ist ganz und gar aus in kunstvollen Formen gefertigten, z.T. farbig glasierten Maßwerkziegeln gemauert.


Samurai

Inzwischen bin ich in Berlin angekommen. Wie immer fiel es mir schwer, mich auf die Großstadt mit ihrem Gewimmel einzulassen, nach so langer Zeit unter freiem Himmel und mit vorwiegend mir selbst als Gesellschaft. Aus der unendliche Zahl an Möglichkeiten entschied ich mich für das Samurai–Museum, das erst kürzlich aus einer Privatsammlung entstanden ist.

Im Berliner Samurai-Museum

Ich war überwältigt von der schieren Zahl der doch so sehr fremdartigen Exponate und von ihrer großzügigen und eindrucksvollen Präsentation. Nachdem ich mich etwas eingesehen hatte, entschloss ich mich, die lebensgroß und sehr realistisch dargestellten Kriegerfiguren zu zeichnen, dazu noch eine Rüstung mit einem gigantischen Halbmond auf dem Helm.

Konnte man mit so einem Teil auf dem Kopf noch kämpfen? Oder war das ein Dekor-Helm für Turniere, wie es sie in Europa auch gab? (Auch bei gehörnten Tieren beendet die Natur irgendwann das Größenwachstum.)

Die Ausstellung, obschon reich kommentiert, ließ bei mir viele Fragen offen, nach den Bildern von Männlichkeit in verschiedenen Kulturen, nach Unterschieden und Ähnlichkeiten zu unseren europäischen Ritteridealen (und nach der Wirklichkeit dahinter) und natürlich immer wieder nach dem, wonach Brechts lesender Arbeiter schon fragte:

… Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
Siegte außer ihm?

Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen? …

Bertolt Brecht „Fragen eines lesenden Arbeiters“

Die Stimme aus dem Kuchenbaum

Von Stendal war ich nach Tangermünde gefahren und von dort – wieder einmal die Elbe querend – über Jerichow Richtung Havel. An der Havel entlang radelte ich über Brandenburg nach Potsdam, in meine alte Heimatstadt. Hier legte ich einen Pausentag ein.

Wie immer führte mich mein Weg in den Park Sanssouci, den ich nun seit unglaublichen 58 Jahren kenne und kaum ein Jahr zu besuchen versäumt habe. Ich war etwas zerknittert, eine kurze Nacht steckte mir noch in den Knochen und mein erster Bildversuch – ein neuromanisches Portal am Kreuzgang der Friedenskirche – gelang nur mäßig. Ich brach den Versuch ab und radelte zum Chinesischen Teehaus.

Mein Ziel war der Japanische Kuchenbaum, Cercidiphyllum japonicum, der unscheinbar in einem Gehölz neben dem Pavillon wächst. Im Herbst verbreiten seine gilbenden Blätter einen süßen Duft nach Zuckerwatte oder frisch gebackenem Kuchen, der intensiv das ganze Areal erfüllte.

Kuchenbaumblätter und Neoromanik.

Ich sammelte einige Blätter ein – noch grüne, mit einem Stich ins Bläuliche, gelbe mit tiefbraunem Rand (als Kind fand ich immer, sie sähen aus wie eine Scheibe Rührkuchen mit Schokoladenguss) und schon ganz und gar gebräunte vom Boden. (Sie würden mit ihrem Duft noch den ganzen Abend lang mein Hotelzimmer erfüllen.)

Als ich noch dabei war, hörte ich eine hallende weibliche Lautsprechstimme, die direkt aus den Büschen zu kommen schien: „Bitte übersteigen sie NICHT die Absperrung, die Parkaufsicht wird informiert…“ Es folgte eine Erklärung über die Empfindlichkeit der Vergoldungen an den Plastiken um das Haus und eine Wiederholung auf Englisch. Als erstes schaute ich auf meine Füße: nein, ich hatte bei meiner Blättersuche keine Absperrung überschritten, vermutlich hatte sich das Geschehen auf der anderen Seite des Hauses abgespielt.

Woher kam mir die Sache mit der Stimme bekannt vor? Als ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte ein Wachmann aus Fleisch und Blut weniger surreal und deutlich unfreundlicher für Ordnung gesorgt. Und da war noch etwas … Erst als ich am Abend im Hotel die Blätter zeichnete, erinnerte ich mich an den Film „Die Tribute von Panem“, in dem die in idyllischer Landschaft auf Leben und Tod kämpfenden Protagonisten von eben solchen Stimmen dirigiert werden …


Intermezzo: Stendal

Auf dem Weg nach Tangermünde hatte ich ein paar Stunden in Stendal eingeplant. Es war Montag (also schon wieder ein paar Tage her), grau, kühl und windig. (Bald würde ich mich über Sonne von vorn beklagen …) Am Markt rüttelte ich vergeblich an der Tür der Marienkirche. Als ich mich schon zum Gehen wenden wollte, kam eine Küsterin und es gelang mir, mit hineinzuschlüpfen.

Sofort fiel mir das mittelalterliche Taufbecken auf. Es ist mit wunderbar ausgeführten Heiligenfiguren geschmückt – „die weiblichen Heiligen größer dargestellt als die Männer!“ erklärte mir die Küsterin strahlend. Als erstes fielen mir die Füße des Gefäßes auf. Sie symbolisieren die vier Evangelisten in den seit der Antike üblichen Symbolen: Mensch, Stier, Löwe und Adler. Meist werden sie, einer biblischen Vision folgend, als geflügelte Wesen dargestellt. Hier aber waren die drei Tiere als Menschen mit Tierköpfen dargestellt, was ausgesprochen seltsam anmutete, für uns heutige vielleicht wie eine Kinderbuchillustration. Gezeichnet habe ich den „Stier“.

Danach setzte ich mich auf den Marktplatz und zeichnete mit zügigen und nach einwöchiger Reise langsam sicher gewordenen Strichen die Kirche.

Auch den Stendaler Dom sah ich mir noch an und saß lange im Chor, der mit vollständig erhaltenen mittelalterlichen Buntglasfenstern versehen ist. Man sieht das heute nur noch selten, oft sind nur Fragmente oder einzelne Fenster verglast, was die Wirkung mindert. Hier war der Raumeindruck ein überwältigender – Edelsteinlicht, zeichnerisch nicht zu erfassen.


An einem Sonntag im Oktober …

…, vorgestern, machte ich gemeinsam mit einer Freundin einen Abstecher nach Werben. Werben ist ein Städtchen am Elbdeich, wenige Kilometer von Havelberg entfernt am westlichen Ufer. Werben ist mit – immerhin! – etwas über tausend Einwohnern die kleinste aller Hansestädte.

Natürlich war es auch hier still, die Lebensader Elbradweg ist Ende Oktober fast versiegt. Ziehende Gänse und streitende Spatzen gab es weit mehr als Menschen, ab und zu schlich eine Katze über die Hofmauern. (Wie laut muss es vor hundertfünfzig Jahren an einem solchen Ort zugegangen sein, als noch Hühner gackerten, Schweine grunzten und der Schmied seinen Amboss schlug.)

Das Elbtor in Werben.

Nach dem Elbtor wandten wir uns der Kirche zu, einem im Vergleich mit der Überschaubarkeit des Ortes riesigen Bau, einer reich mit Maßwerkziegeln verzierten gotischen Hallenkirche. In Werben war die Johanniter-Verwaltung für ganz Norddeutschland ansässig – ihr unterstand also auch die Komturei in Kraak, wo ich am ersten Reisetag den Glockenstuhl gezeichnet hatte. Auch der Pilgerweg nach Wilsnack führte über Werben.

Leider war die Kirche erst einmal verschlossen. Wir wendeten ihr den Rücken zu und zeichneten die schönste aller schönen Werbener Türen. Daran friemelten wir lange, und als noch jemand öffnete, hörten wir auf unsere knurrenden Mägen und fingen keine Zeichnung mehr an …


Havelberg

Der Havelberger Dom ist ein großer kompakter Bau, der machtvoll und abweisend auf dem Steilufer der Havel steht, flussseitig weithin sichtbar. Es ist kein spiritueller, sondern ein politischer Ort, ein Brückenkopf an der Grenze zwischen christlich und heidnisch, zwischen „West“ und „Ost“.

Im Innern wurde ich von Stille und romanischer Düsternis empfangen, aus der heraus kostbare Glasfenster leuchteten. Doch weder die Fenster noch der reich geschmückte gotische Lettner luden mich zum Bleiben ein, sondern der Kreuzgang. Hier verband sich das Bergende der Mauern mit dem Tageslicht, das vom letzten Grün einer alten Linde gefiltert wurde.

Im Havelberger Kreuzgang. Ich saß hier länger als zwei Stunden, das Motiv erwies sich als vertrackt.

Am nächsten Tag war vor der Abfahrt Zeit und Gelegenheit für eine lockere Skizze des Doms von außen.


Wilsnackfahrt

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.

Prediger 3,1

Nach zwei geruhsamen Fahrradtagen entlang der Elbe verbrachte ich einen Tag in Bad Wilsnack. Bahnfahrende kennen den Ort als Station an der Regionalstrecke Berlin-Schwerin, aber sonst? Wer weiß schon, dass Wilsnack im ausgehenden Mittelalter ein Pilgerort von überregionaler, ja internationaler Bedeutung war? In Nordeuropa war es einhundertfünfzig Jahre lang Santiago ebenbürtig.

Verehrt wurde nicht der Heilige Jakobus, sondern ein sogenanntes Blutwunder. Das Dorf Wilsnack war 1383 im Rahmen einer Fehde niedergebrannt worden – eine üble und weit verbreitete Angewohnheit kleinadliger Wichtigtuer. Als man in den Resten der Kirche nach Verwertbarem stocherte, fand man drei unversehrte und blutende Hostien – so geht die Legende. Ob es hier einen bakteriologischen Hintergrund gab oder der Ortspfarrer sich die Geschichte schlichtweg ausgedacht hatte, um dem Wiederaufbau seiner Kirche aufzuhelfen, lässt sich heute nicht mehr klären; erwiesen ist, dass bald diverse Wunder geschahen und und die Angelegenheit schnell an Tempo gewann.

Eine Pilgerfahrt wurde im Mittelalter nicht zu Selbstfindungszwecken unternommen. Meist versuchte man, etwas für sein Seelenheil zu tun – nichts fürchtete der mittelalterliche Mensch so sehr wie die Strafen der Hölle. Durch Pilgern konnte man die Chance auf einen guten Ausgang verbessern. Es war also häufig etwas, das wir heute vielleicht als Buße bezeichnen würden, selbst- oder fremdverordnet. Letzteres kam häufig vor, bei schweren Straftaten wie Totschlag ebenso wie bei Wirtshausrandale oder ähnlichem. Die Pilgerfahrt wurde angeordnet wie heutzutage zwanzig Tagessätze.

Entsprechend ruppig wird es vermutlich in den Pilgergruppen zugegangen sein. (Es gab natürlich auch „ordentliche“ Pilger.) Ein besonderes Phänomen war das „Wilsnacklaufen“, Züge von meist sehr jungen Menschen, die an Massenhysterie denken lassen, an „Kinderkreuzzüge“ und vor allem daran, wie wenig wir über das Mittelalter wissen.

Die Kirche von Wilsnack im Morgenlicht, gezeichnet auf grau getöntem Aquarellpapier von Bockingfort.

Die Einnahmen aus all dem erlaubten bald den Bau einer neuen schönen Wallfahrtskirche, und als im 15.Jahrhundert zehntausende Pilger kamen, legte man noch einmal nach und erweiterte den Bau noch einmal – bis die Reformation dem Spuk ein Ende machte. Da stand er nun, ein riesiger halbfertiger turmloser Kasten, der erst 1591 mit einem Renaissance-Giebel verschlossen wurde. Bald darauf begann der Dreißigjährige Krieg, an dessen Ende Wilsnack fast entvölkert war.

Im Laufe der Jahrhunderte entsann man sich der Kirche, renovierte und restaurierte nach dem Geschmack der jeweiligen Zeit. Von außen wirkt sie intakt, wenn auch nicht besonders harmonisch; im Innern auf eine angenehme Weise provisorisch. Es gibt in dem riesigen Gebäude mehrere kleine Ausstellungsinseln, Kinderbastelecken, Büchertische; keine Bänke, sondern einfache Veranstaltungsstühle und von denen auch nicht so viele. Ich fühlte mich willkommen geheißen.

Die alten Statuen vom Südportal der Kirche.

In einer Wandnische stehen die Originale einiger alter Statuen von der Außenseite der Kirche, die man durch neue Kopien ersetzt hat. Diese hier rührten mich an: „Christus als Weltenherrscher“ und „Maria Himmelskönigin“, beide verrußt, beschädigt und auf Augenhöhe gebracht – – – Es waren zwei meditative Stunden, die ich vor ihnen zubrachte, im Angesicht ihrer Fragilität und Größe.