Fragmente

Mühsam war der Winter gewesen, und noch zu Frühlingsbeginn hatte mich ein Virus gegriffen, das dritte der Saison. Zum Zeichnen fehlte mir … ja, was eigentlich? Ein paar kleine Aquarellgeschenke brachte ich zustande, von Fotos kopiert – nichts zum Zeigen. Nach der erhebenden Begegnung mit Malikis Comics versuchte ich den nächsten Domestika-Kurs, doch dieses Mal sprang kein Funke. Dies zu akzeptieren brauchte ich Abend um Abend, an dem mir über dem Skizzenblatt die Augen zufielen. Das Papier war entweder zu rau oder zu dünn, und natürlich trocknete der Füller ein.

Darüber ist es Mai geworden und Urlaub. Gleich am ersten Tag trafen sich die Schweriner Urban Sketchers in unerwartet großer Zahl. In der Nähe unseres Treffpunkts fand ich einen Zeichenplatz vor einer hinreißenden Rokokko-Tür, die schon lange auf meiner Zeichenliste stand; sie ist leider immer zugeparkt. Es ging trotzdem.

Einer solchen Tür kommt man nur im Fragment zu Leibe, es sei denn, man plant einen ganzen Tag ein. Vor Ort gab es Linien und Schatten, zu Hause noch ein paar Spuren Farbe.

Bevor ich mit der Tür begann, war noch der bunte Fleck zu zeichnen, der genau in Augenhöhe auf dem braunen Holz saß: ein kopulierendes Lindenschwärmer-Paar.

Am Nachmittag blieb ich dem Fragmentarischen treu, genoss im Getümmel den Blick über die Schlossbucht und erweckte am Abend das halbe Bild mit Farbe zum Leben.

Das soll für den Anfang genügen.


Heiterer Ernst

Ernst ist das Leben, heiter die Kunst.

Friedrich Schiller

Das Schweriner Staatliche Museum, eine hochkarätige Kunstsammlung, ist schon seit Jahren wegen eines umfangreichen Umbaus geschlossen. Vor lauter Grummelei darüber hatte ich übersehen, dass einige der hochkarätigsten Sammlungsstücke schon seit zwei Jahren im Schloss gezeigt werden. Nun habe ich es endlich geschafft, die Schweriner Urban Sketchers waren auf der Suche nach einem Winterzeichenort auf das Schloss gekommen.

Das Angebot an Zeichenmotiven ist überwältigend; selbst wenn man keinen Eintritt löst, kann man sich stundenlang mit dem spektakulären Treppenhaus und den Ausblicken in den Schlosshof beschäftigen. Ich hatte nach einem ersten Rundgang schnell mein Motiv gefunden.

Diese etwas über 30cm hohe Christusfigur ist ein Hingucker und, nach dem ersten Eindruck unfreiwilliger Komik, ein Rätsel. Aus dem Kontrast von kindlicher Körperform und hoheitsvoller Segensgeste erwächst uns heutigen eine schwer aufzulösende Irritation, zumal das Lächeln etwas karikatur- und buddhahaftes hat. (Auf meiner Zeichnung ist das etwas abgemildert umgesetzt.)

Tante Google hilft mit ihrer Bildersuche; später finde ich die Figur auch in einem dicken und lange nicht angesehenen Buch wieder. Im Hochmittelalter (und in katholischen Regionen bis in das 18.Jahrhundert) war das Einkleiden von Christusfiguren zur Weihnachtszeit in Nonnenklöstern weit verbreitet, die Figuren wurden – wie Anziehpuppen – nackt gefertigt und bekamen erst an ihrem Bestimmungsort Krone und Ornat. Diese Art von Gewändern hat die Zeitläufte kaum überstanden, daher ist das mit Hermelin verbrämte Mäntelchen des ehemals Rostocker Christkindes eine Rarität.

Diese Christusfigur ist ein Widerschein einer uns fremden, kaum noch einfühlbaren spätmittelalterlichen Frömmigkeit. In den antiklerikalen Erzählungen der letzten zweihundert Jahre erscheinen Nonnenklöster vor allem als Orte der Unterdrückung; dass sie auch Orte einer sehr spezifischen weiblichen Spiritualität waren, ist darüber fast in Vergessenheit geraten.

Allegorie des Sommers, Sandsteinfigur, etwa 100cm hoch.

Die Irritation über diese Figur stellte sich erst während des Zeichnens ein. Es sind insgesamt drei Kinder, die als Allegorien Frühling, Sommer und Herbst darstellen (der Winter sei gestohlen worden, als sie noch draußen standen.) Der „Sommer“ ist, ermüdet vom Schafehüten, im Stehen eingedöst, man vermeint das leise, etwas blubbernde Schnarchen eines pummeligen Kindes zu hören … Solche „niedlichen“ Kinder, die erwachsenen Beschäftigungen nachgehen, waren in der Alltagkultur (gemeinhin als Kitsch bezeichnet) noch bis ins späte 20.Jahrhundert weit verbreitet; als Nischenprodukte gibt es sie noch immer (z.B. als „Hummel“-Figuren).

Die Dissonanz zwischen der „erwachsenen“ bäuerlichen Tätigkeit und deren idyllisierender und verniedlichter Darstellung ist auf den ersten Blick nicht so stark wie die beim Anblick eines segnenden Säuglings im Hermelinmantel – doch erschien sie mir als ein Widerschein der kognitiven Dissonanzen, die frühmoderne und moderne Gesellschaften mit sich bringen (und die manchmal, um bei der Landwirtschaft zu bleiben, in Traktoren vor dem Brandenburger Tor ihren Ausdruck finden.)


Am Morgen eines heißen Tages

Nachdem ich in der Neustädter Havelbucht den Spuren meiner ersten Stadtzeichnung nachgegangen war, ging ich noch einmal in den Park Sanssouci. Das Thermometer war bereits auf über 30 Grad gestiegen; umso erfreuter war ich, an der großen Fontäne noch einen Platz auf einer schattigen Marmorbank gefunden zu haben.

Wie immer erweiterte das Zeichnen meinen Blick: aus zwei seit über fünfzig Jahren vertrauten, doch stets namenlos gebliebenen Marmorfiguren wurden Apollo und Diana. Auch dass sie einander sehnsuchtsvoll zugewandt sind, sah ich zum ersten Mal.

Apollo und Diana vor dem Schloss Sanssouci.

Völkerkunde oder: Chinoiserie 2.0

Eigentlich hatte ich die Rosen zeichnen wollen: hunderte alte Sorten kann man im Rosengarten am Schloss Charlottenhof im Park Sanssouci bewundern. Wenn man zur richtigen Zeit kommt. Ich aber war zwei, drei Wochen zu spät, die Hitze hatte das ihre dazu beigetragen, dass nur noch ein paar Nachzüglerinnen ihre letzten rosa Blütenköpfe zeigten. Außerdem wurde es dort rasch heiß.

So wanderte ich weiter zum Chinesischen Teehaus, einem Pavillon im „chinesischen“ Stil, dessen lebensgroße vergoldete Figuren unter „Palmen“-Säulen uns viel über das Weltbild des Rokokko und wenig über das China jener Zeit erzählen: eine Chinoiserie. Bewacht wurde das Gebäude von einem grimmig dreinschauenden Herrn meines Alters, der mich daran erinnerte, dass Potsdam einst eine Hochburg sehr staatsnaher DDR-Beamter gewesen war.

Kaum hatte ich es mir auf meiner schattigen Bank gemütlich gemacht, kamen drei echte Chinesinnen des Wegs und begannen vor der Figurengruppe für ein Foto zu posieren. Zwei von ihnen überstiegen eine niedrige Hecke am Wegrand und im selben Moment hörte man es von innen laut an die Scheibe wummern. Als die Damen nicht reagierten, kam der Wachmann in erstaunlichem Tempo um die Säulen herum gerannt und brüllte: „MACHT IHR DITT IN CHINA OOCH SO, ODA WATT?“

Vergoldete Figurengruppe am Chinesischen Teehaus im Park Sanssouci

Am früheren Beruf des Herrn hatte ich nun keinen Zweifel mehr. Die Chinesinnen aber schlenderten geruhsam weiter und ließen mich mit der Frage zurück, ob ihnen wohl eine App verraten hatte, was die goldenen Figuren darstellen sollten.


Rokokko, kopflos

Statue des heiligen Dionysius in der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen.

Statue des heiligen Dionysius in der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen.

Einige Kilometer von Lichtenfels entfernt befindet sich auf einem Hügel die Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen. Als ich Ende Oktober zu Fuß dort ankam, hatte ich erst einmal einige Kilometer Autobahnzubringer zu erlaufen, bevor der Weg ins freie Land abbog – nicht ohne den Lärm aus dem Tal noch lange mitzunehmen. Die Kirche war weithin zu sehen, wenn auch ihre Türme eingerüstet waren und die Spitzen im Nebel verschwanden.

Im Zentrum der Kirche steht der Gnadenaltar – wirklich in der Mitte, ein freistehendes Gebilde aus Stuck und Gold, über und über ornamentiert und von vierzehn ebenfalls goldstuckigen, lebensgroßen Heiligenfiguren bevölkert. Gestern war ich noch im protestantisch-neogotischen Coburg gewesen, und nun dieses animistische Rokoko ….

Gezeichnet habe ich am Ende die Statue des heiligen Dionysius, des legendären ersten Bischofs von Paris. Er soll um 250 auf dem Montmartre, dem „Berg der Märtyrer“, geköpft worden sein und dann mit dem Kopf in der Hand noch ein Stück gelaufen sein.  Hier steht er im kostbaren Bischofsgewand und hält seinen abgeschlagenen Kopf in den Händen wie einen Prozessionsgegenstand – sozusagen ein edler Vorfahre des Claus Störtebeker. In Frankreich kennt man ihn unter dem Namen St.Denis, und in der ihm geweihten Kirche sind fast sämtliche französischen Könige begraben.


Johannes der Täufer am Radweg

Wer hätte gewusst, dass es Radwegkirchen gibt? Ich weiß es jedenfalls erst, seit ich im thüringischen Eberstedt in einer gerastet habe. Es war eine sehr angenehme Rast in einem hellen lichten Kirchenraum mit einer beeindruckenden Rokokko-Ausstattung und einer freundlichen und lebendigen Atmosphäre.

Die Stirnwand wird von einem großen Schnitzaltar eingenommen. Zum Zeichnen habe ich mir Johannes den Täufer gewählt. Er hält die Thora auf dem rechten Arm und weist damit gleichzeitig auf Jesus als den Kommenden, der das Gesetz transzendieren wird – ein ikonografisches Motiv, dem ich später in der Gegend in ganz ähnlicher Form noch einmal begegnete. Johannes trägt eine Art zotteligen Fellmantel, der ihn ein wenig in die Nähe eines „wilden Mannes“ rückt. Einen schönen Kontrast dazu bildet die Dekoration, die ich als Rosen, Ananas und Tabakblätter gedeutet habe.

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