Einhundertzwölf Tage …

… ist es nun her, seit ich mich in Begleitung einer sechzig Jahre alten Packung Würfelzucker in das Abenteuer „100-Tage-Projekt“ gestürzt hatte. Was ist daraus geworden?

Am 23.Februar, dem Starttag, schrieb ich:

Es ist ein Social-Media-Projekt (eine „Challenge“, dazu schreibe ich später mehr), länger als die meisten Projekte dieser Art; dafür mit großzügigen Regeln. Eigentlich mit nur einer Regel: mach hundert Tage lang etwas, das Du schon immer machen wolltest, und damit Du dranbleibst: Halte das Ganze so einfach wie möglich. Und zeige die Ergebnisse öffentlich, in einem Medium Deiner Wahl. 

Ja, ich habe es einfach gehalten, wozu auch zählt, dass ich noch nichts über mein Verhältnis zu „Challenges“ geschrieben habe. Um es kurz zu machen: Ich mag den Begriff nicht, weder als „Challenge“ noch als „Herausforderung“. Die „Herausforderung“ ist ist ein Geschwister von „Komfortzone verlassen“, wozu ich vor einiger Zeit schon einmal etwas geschrieben hatte, ein Euphemismus aus der Welt des amerikanischen Business-Sprechs. Der Begriff „Herausforderung“ stammt aus der mittelalterlichen Männerwelt, was man erkennt, wenn man ihn wörtlich nimmt: da wird jemand (zu einem Zweikampf) aus seinem geschützten Raum „heraus“ „gefordert“. Die „Challenge“ bedeutet genau das gleiche und wurzelt in einem lateinischen Wort für „Beschimpfung“.

Also: Projekt. Und was ist daraus geworden? Viel. Wenn auch nicht alles, was ich mir vorgenommen hatte. Größere Pläne – und das Ganze war ein zumindest mittlerer Plan – haben das so an sich. Die ursprüngliche Idee war gewesen, mich dem Inhalt von drei Schubladen, genannt „Mein kleines Museum“, zu widmen. Ich sollte sehr schnell merken, dass meine Wohnung weit über diese Schubladen hinaus ein Museum ist, ein Ort voll beseelter Dinge, voll stiller Lebendigkeiten. So stand ich bald vor einer riesigen Auswahl an Motiven, von denen nur einige wenige den Weg auf das Papier fanden.

Das letzte Bild war am 55. von 100 Tagen entstanden, und dem Museumsplan kam etwas sehr Schönes in die Quere: es wurde Frühling. Ich saß am Ostersonntag vor der „Ewigkeitspforte“ der Schelfkirche, ich verbrachte stille Tage in Bellin und zeichnete, nicht zum ersten Mal, das Schweriner Schloss… Immer wieder, auch das sei hier erwähnt, kam es zu „ungezeichneten“ Tagen, aus Gründen …

Im letzten Viertel des Projektes kehrte ich an den Zeichentisch zurück, friemelte zwei Wochen lang an eine Buntstiftzeichnung, traf mich zwischendurch mit den Urban Sketchern, kam dann am 95.Tag doch aus dem Tritt, aus Gründen, wiederum …

Doch es gab noch ein kleines Nachspiel. Bei der Suche nach den Fossilien hatte ich in einigen Kisten und Dosen gekramt, von denen ich kaum noch wusste, dass es sie gab. In einer fand ich dieses freundliche Püppchen.

Ein Eierwärmer, Typ „Trachtenpuppe“, hergestellt in den 1960er Jahren im Erzgebirge. Wo die kleine Dame ihre letzten 25 Lebensjahre verbracht hat, lässt sich nicht rekonstruieren; davor stand sie in dem etwas unordentlichen und zur Hälfte von Büchern eingenommenen Glasschrank meiner Kindheit. Vermutlich wurde sie gelegentlich zu Sonntagsfrühstücken herausgeholt, zusammen mit ihrer Schwester, die eine rot-weiß gestreifte Schürze und ein weißes Häubchen trug und deren Verbleib ich nicht erinnere.

Frisch gewaschen wartete sie auf dem Zeichentisch, obschon der einhundertste Tag bereits überschritten war, auf ihren Moment. Gestern nahm ich sie zu einem sommerlichen Balkonfrühstück mit nach draußen, da stand sie zwischen einem Frühstücksei und den Rosen und Kräutertöpfen, denen die nächsten Zeichenmonate gehören werden. Und, nein, sie kam nicht zurück in die Kiste, sie steht nun wieder im Schrank (wenn auch ohne Glasscheibe) zwischen Tassen, Tellern und Eierbechern: eine kleine Museumswärterin.


Das letzte Viertel

Mitte April zeichnete ich mein Osterfenster und die zugehörigen Eier – damit endete am 55.Tag fürs Erste das „Museumsprojekt“. Die Urban Sketchers trafen sich wieder unter freiem Himmel und ich reiste für ein paar Tage nach Bellin. Dort war es windig und kühl und ich holte mir die Pflanzen zum Zeichnen nach drinnen.

Als ich zurückkam, war es mittlerweile Tag 75 geworden und das letzte Viertel der einhundert Tage angebrochen. Eher zufällig ergab es sich, dass noch einmal das Museum in den Mittelpunkt rückte. Zum Geburtstag eines Fossiliensammlers plante ich ein Strandstillleben – die Zutaten fand ich, man kann es sich denken, in Dosen, Schachteln und Kästchen; tief unten in Regalen und Schränken. An diese Steinsammlung hatte ich lange nicht gedacht und was mit den Steinen alles zu Tage kam, brachte noch einmal neue Dimensionen in das Museumsthema. (Und würde für die Zeichnungen vieler langer Winterabende ausreichen.)

Ich entschied mich für eine Buntstiftzeichnung. Wasservermalbare Stifte können effektvoll sein – deckend, leuchtend – haben aber auch ihre heikle Seite, wenn sich beim Anlösen die Farbtöne verändern; so wählte ich die trockenen Verwandten.

Strandstillleben, 12 x 15 cm, Polychromos-Stifte auf PaintOn weiß

Eine solche Buntstiftzeichnung ist weitgehend gelingsicher; in einem englischsprachigen Buch zum Thema bezeichnete die Autorin das Medium als forgivable, das trifft es recht gut. Die Zeichnung wird in Schichten aufgebaut; man geht behutsam vor und der weiße Untergrund verschwindet, anders als bei der Gouache, nicht ganz.

So ergab sich ganz von selbst eine allabendliche Meditation auf Papier. Wenn das Motiv einmal festgelegt ist, wird Schicht um Schicht, Stunde um Stunde sorgfältig und exakt die Farbe aufgetragen. Das flüchtige Karussell der Gedanken steht still, die Horde wilder Affen im Kopf legt sich schlafen, der Geist klärt sich …


Stille Tage in Bellin

Um den 1.Mai herum verbrachte ich einige Tage im „Haus der Stille“ im mecklenburgischen Bellin, zehn Kilometer südlich der Barlachstadt Güstrow. Ich habe geschwiegen, gezeichnet, zweimal am Tag eine Viertelstunde in der wunderbaren alten Kirche eine kleine Andacht gehalten; habe Pflanzen gesammelt, Spaziergänge gemacht und dabei den zahlreichen Vögeln gelauscht …

Ich kenne Kirche, Haus und Grundstück seit zehn Jahren, doch war ich anscheinend noch nie um diese Jahreszeit dort gewesen, denn in dem verwilderten Garten hinter dem Haus blühte ein riesiger alter Zierkirschenbaum, den ich noch nie bemerkt hatte.

Nagori – wörtlich „der Abdruck der Wellen“ – bedeutet auf Japanisch so etwas wie „die Sehnsucht nach der von uns gegangenen Jahreszeit“. Nagori ist das Gegenteil von Tulpen im Dezember und Erdbeeren im Februar, es blickt zurück auf eine bewusst gelebte Saison, die nun in die nächste übergeht. Im immer wieder mal auffrischenden Wind überschüttete der Baum den Garten mit einem rosa Flimmern, das das Ende seiner Pracht ankündigte.

Ich bin in diesen Tagen auch dazu gekommen, eine Neunkräutersuppe zu kochen. Was ich dafür brauchte, fand ich in Hülle und Fülle, mehr als neun Kräuter sogar; gezeichnet habe ich nur die Knoblauchsrauke. Am prächtigsten wuchs sie im Schatten einer alten Feldsteinmauer, gemeinsam mit Gundermann, Löwenzahn und Giersch. Ich ließ mir Zeit mit der Zeichnung, unterbrach sie wohl auch mal für etwas anderes – um mit jedem neuen Ansatz das seltsame Gefühl zu haben, dass die Blätter am Stängel die Plätze getauscht hätten.

Am nächsten Tag begann ich noch einmal von vorn; es funktionierte besser, doch ein Rest von Verwirrtheit blieb. Gepflückt hatte ich sie am 1.Mai, der nicht nur der Tag der Arbeit ist, sondern seit alters her auch etwas mit Naturgeistern zu tun hat – vielleicht hatte sich die Knoblauchsrauke in der Walpurgisnacht unter der Hand in eine Koboldsrauke verwandelt … (Doch war es, wenn, dann ein freundlicher Kobold, denn die Suppe tat gut und schmeckte hervorragend.)

Für alle, die es interessiert, hier noch das Rezept für die Suppe:

Man nimmt, was man hat, Hauptsache ungiftig und nicht extrem bitter. Bei mir waren es: Gundermann, Löwenzahn, Knoblauchsrauke, Petersilie, Bärlauch, Schafgarbe, Spitzwegerich, Thymian, Minze. Gegeben hätte es noch Giersch, Brennnessel und Wiesenkerbel.

2 Zwiebeln in reichlich Butter andünsten, mit Wasser auffüllen, zwei fein gewürfelte Kartoffeln dazu, 1/4 Stunde köcheln lassen. Mit Salz, Gemüsebrühe und Muskat würzen. In der Zwischenzeit die Kräuter waschen, ggfs von den Stielen streifen und grob hacken. Wenn die Kartoffeln weich sind, kommen die Kräuter in den Topf, kochen kurz auf und dann wird das Ganze mit dem Pürierstab zerkleinert. Vom Herd nehmen. Zum Schluss pro Person ein Eigelb mit etwas (Pflanzen)Milch oder Sahne verquirlen und schnell in die heiße, aber nicht mehr kochende Suppe rühren.


Intermezzo …

… oder Motivwechsel, das war die Frage in den letzten drei Wochen, denn ab Ostern drängten sich andere Themen vor das Museumsprojekt. Ich hatte es geahnt und mir bereits am Anfang die Erlaubnis dazu erteilt, wenn denn nur weitgehend täglich ein Stift in die Hand genommen würde.

Anfang Januar waren die Schweriner Urban Sketchers bereits einmal in der Schelfkirche unterwegs gewesen. Die schöne Kirche in seltenem Backsteinbarock ist von einem schweren Dachschaden heimgesucht worden und nur dank eines ausgeklügelten Notsicherungssystems noch betretbar; ich hatte die Fachwerkkonstruktion im Innenraum seinerzeit gezeichnet. Nun hatten wir uns die Kirche von außen vorgenommen. Mit zwei anderen Zeichnern traf ich mich am Nachmittag des Ostersonntags, mittlerweile Tag 57 des Projekts, an der Kirche.

Es war feiertagsstill, die langsam sinkende Sonne tauchte das Südportal der Kirche in schönstes Streiflicht. Ich ging mit feinen Strichen und der gleichen Akribie wie bei meinen Haushaltsgegenständen zu Werke – und brach bald frustriert ab: Der Tausendfüßler war über seine eigenen Füße gestolpert. Ich verkleinerte das Motiv, konzentrierte mich auf die Figurengruppe über dem Türsturz und umriss die Form mit großzügigen Linien – dann faserte der Nachmittag in ein freundliches Gespräch aus. Urban Quatsching.

So hieß es wieder die Abende nutzen. Während ich noch in kleinen Abschnitten an dem Motiv strichelte, ging die Woche schneller vorbei als gedacht. Flugs war es wieder Wochenende, Tag 64, und ich fand mich mit einer Gastzeichnerin aus Aachen am schönsten alle Schlossblicke wieder. Danach brauchte ich noch einmal zwei Tage, viele feine Kugelschreiberstriche und ein paar Schichten Wasserfarbe, um das Türmotiv an Tag 67 zum Abschluss zu bringen.

Fast genauso viel Zeit wie zum Zeichnen hatte ich dafür benötigt zu verstehen, was ich da eigentlich abgebildet hatte.

Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft. (1.Korinther 15,43)

Es war fast schon eine Jungsche Synchronizität, dass ich am Ostersonntag vor diesem Satz des Apostels Paulus saß, den ich mir zudem noch am Vormittag in einem erhellenden Radioessay hatte erklären lassen. Paulus führt den Empfängern seines Briefes in eindrücklichen Sprachbildern seine Vorstellung von Auferstehung und Ewigkeit vor Augen, die mehr umfassen als ein einfaches „Weiter so“.

Schwieriger war es mit der lateinischen Inschrift, die voller (militärischer) Anspielungen und voller Verkürzungen steckt, sie lautet sinngemäß:

Im Zeichen Jesu besiege ich alles. Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit.

Die künstlerische Umsetzung war dann eher schlicht-allegorisch: Gott erscheint als Wolke, aus der grünspangrüne Kupferblitze zucken, während zwei pummelige Putten für Saat und Ernte stehen. Die Ewigkeit war unter diesem Türsturz allerdings in sehr konkreter Weise anwesend – das Südportal führte einst auf den (heute nicht mehr vorhandenen) Friedhof hinaus; nach dem Trauergottesdienst wurde der Sarg hier hinausgetragen.


Ostereier

Auf dem letzten Bild spielten sie, obschon in den Vordergrund platziert, nur eine Nebenrolle – drei Ostereier in einer viereckigen Bollhagen-Schale. Das soll sich heute ändern. Diese Eier gehören in das große Kapitel „Osteuropa-Kontakte meiner Mutter“, sie sind Mitbringsel von einem längeren Aufenthalt im schlesischen Opole. Es gab etliche von ihnen; mittlerweile sind es nur noch sechs.

Das Skurrile an diesen Eiern ist: Sie werden so lange gekocht, bis sich in ihrem Innern nichts mehr rührt und das Ganze – theoretisch – vierzig Jahre oder länger hält. Das totgekochte Ei trocknet mit den Jahren ein – bewegt man es, klingt es wie ein Klapperstein. Die Schalen werden mit der Zeit immer fragiler, und so kann es passieren, dass man ein Ei sorgfältig in die Packung legt – und zu Beginn der nächsten Saison ein zerbrochenes findet.

Das bunte Ei – so erfahre ich erst jetzt – hat mit Ostern gar nichts zu tun. Es ist sozusagen mein Überraschungsei: eine Blechschachtel in Form eines Eis, etwa fünf Zentimeter lang und mit einem Märchenmotiv bedruckt. Es enthielt Schokolade oder andere Süßigkeiten und wurde von einem Automaten in Form eines gackernden Blechhuhns „gelegt“ – nachdem man zehn Pfennige eingeworfen hatte. Wie einer der – mittlerweile auch fast ausgestorbenen – Kaugummiautomaten aus den Neunzigern, nur lustiger. Und wie viele solcher alten Blechsachen sind diese Eier heutzutage Sammelobjekte – für ein gut erhaltenes Exemplar können über hundert Euro bezahlt werden. (Ist mein Ei gut erhalten? Egal – es bleibt in meiner Schublade.)

Und dann sind da noch die blauen Eier in klassischer Wachsreservetechnik. Was ihnen für die Museumsreife an Alter fehlt, machen sie durch Schönheit wett; ich bekam sie 2018 geschenkt, nachdem ich die Schöpferin gezeichnet hatte.


Tokonoma

Ein Tokonoma ist eine Wandnische in einem traditionellen japanischen Raum, der mit Aufmerksamkeit für Details jahreszeitlich dekoriert wird. Auch in meinem Wohnzimmer gibt es eine Tokonoma: das breite Fensterbrett des einzigen Fensters. Nachdem die letzten spätwinterlichen Hyazinthen in ihren Gläsern abgeblüht hatten, wurde es dort Zeit für die Osterdekoration.

Was wäre besser dafür geeignet als blau-weiß gemustertes Bollhagen-Geschirr? Die Keramik mit den abwechselnd hell- und dunkelblauen Streifen ist ein Klassiker aus einer Keramikmanufaktur, die vor allem im Osten Deutschlands legendär ist.

Auf dieses Geschirr trifft in meinem Haushalt noch mehr als auf andere Gegenstände der Satz von Rolf-Ulrich Kunze zu:

.. dass alle uns umgebenden Dinge narrativ aufgeladen waren: ihre Geschichte seit ihrem Eintritt in unsere Familie war bekannt, gehörte zu ihnen und wurde immer wieder erzählt. 

Kernstück des Arrangements ist eine Teekanne, deren Muster im Gegensatz zu den Blockstreifen ein zartes Gitternetz bildet. Diese Kanne gehört zu einem Teeservice, das ich am Ende meines Studiums in einer Greifswalder Kunstgalerie erwarb – eine fast unglaubliche Beute vor dem Hintergrund der DDR-Versorgungslage. (Und für eine Studentin mit 200 DDR-Mark eigentlich unbezahlbar, doch ich hatte gerade genau diese Summe zum Studienabschluss geschenkt bekommen.)

Die klassisch gestreiften Teile habe ich später im Laufe der Jahre gebraucht erworben; die Eier im Vordergrund stammen ebenfalls aus den 1980er Jahren und haben ihre eigene Geschichte, die auch noch erzählt werden wird.

Gezeichnet habe ich das Blatt mit farbigen Kugelschreibern. Vor Jahren hatte ich in einer Bahnhofsbuchhandlung einen 10er Satz erworben, der zu einem treuen Begleiter für Sitzungskritzeleien geworden war. Übrig geblieben sind nur die wenigen Farben, mit denen ich hier gezeichnet habe. Die feinen und etwas nervös wirkenden Linien sind eine Art Gegenentwurf zur Erdschwere der Gouache des letzten Bildes geworden; abendliches Gestrichel einer ganzen, mich etwas ermüdet habenden Woche.

Heute ist Tag 49, morgen Halbzeit des 100-Tage-Projekts. Ich staune, wie schnell die Zeit vergangen ist. Es gab zwischendurch vier oder fünf Tage, an denen ich gar nicht gezeichnet habe, sonst waren es wenigstens einige Striche. Da ich mir keinen zeitlichen Rahmen pro Bild gesetzt habe, ist es gut zu schaffen. Natürlich werden auf diese Weise am Ende der Aktion noch diverse Museumsobjekte ungezeichnet geblieben sein. (Fast habe ich das Gefühl, sie in ihren Schubladen und Schrankfächern mit den kleinen Füßen scharren zu hören – jedes Ding will das nächste sein, das drankommt.)


Keramik

Tonkrüge und -töpfe, überhaupt keramisches: davon gibt es in meinem Haushalt genug. Um genau zu sein: mehr als genug. Bäuerliche Gebrauchskeramik aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mischt sich mit moderner Salzglasurware, Erinnerungen an Osteuropa-Reisen mit Beutestücken von den Töpfermärkten der letzten dreißig Jahre …

Ich stellte drei Gefäße vor mich auf den Zeichentisch und wählte dazu erdnahe, handfeste Farben: Gouache. Gouache-Farben sind Deckfarben, die stumpf und manchmal etwas kreidig auftrocknen, und, anders als Acryl- oder Temperafarben, immer wasserlöslich bleiben. Ich hatte im letzten Sommer, angeregt durch zwei Domestika-Kurse, ein bisschen mit Gouache experimentiert, sie aber dann zugunsten von Tinten und Tuschen wieder zur Seite gelegt.

Gouache 17×17 cm im quadratischen Stillman&Birn Zeta Buch.

Ich nahm mir vor, mit nicht zu kleinem Pinsel zu arbeiten und hatte meine Freude an dem Motiv. Wieder einmal war ich erstaunt, wie anders sich diese deckenden Farben gegenüber den mir vertrauten Aquarellfarben verhalten. Nicht nur, dass nichts fließt und man helle Stellen nicht mühsam aussparen muss – das gesamte Mischverhalten ist ein anderes. Kaum ist ein bisschen Weiß im Spiel, verändern sich die Farbtöne, werden stumpfer, grauer, matter; Brauntöne gern auch ein bisschen rötlich. (Dass ich mir vor einem halben Jahr schon einmal ausführliche Farbkarten angelegt hatte, erinnerte ich erst, als ich fast fertig war.)

Erstaunt stellte ich fest, wie viele „bunte“ Töne meine braunen Töpfe „schluckten“ und immer noch braun blieben. Das brachte mich auf die Idee, ein bisschen mit den Farben herumzuspielen, um vertrauter mit ihnen zu werden.

Ebenfalls im quadratischen S&B Zeta gemalt.

Gedacht, getan zeichnete ich das das einfache Motiv schnell viermal aufs Blatt. Ich hatte mir vorgenommen, zuerst einmal die „bunten“ Töne etwas zu übertreiben (das ist das Kästchen links oben) und mich dann treiben zu lassen. Das Ergebnis wurde eine Überraschung: die Bilder ähnelten einander mehr, als ich beabsichtigt hatte. Keine krassen fauvistischen Dissonanzen, keine scharlachroten Hintergründe, keine düsteren Sepiatöne – mein Farb-Über-Ich hatte anscheinend eine ziemlich klare Vorstellung von Harmonie.

Da sind noch einige Überraschungen zu erwarten.


Löffel

Löffel sind Schubladenbewohner; so wundert es nicht, dass sich auch in meiner Museumsschublade einige versammelt haben. Von Anfang des Projektes an hatte ich mich darauf gefreut, sie zu zeichnen. Es sind schöne Objekte, jedes von einer eigenen Ästhetik – und natürlich mit einer eigenen Geschichte.

Die des gläsernen Bowlelöffels kenne ich allerdings nicht – weder weiß ich, wie und wann er in meinen Haushalt kam, noch, wo das restliche Bowlenservice abgeblieben ist. Erdbeerbowle, die Mutter aller Sommerbowlen, tranken wir noch in den 90ern; auch Waldmeisterbowle (nach Fontanes Rezept aus „Schach von Wuthenow“) war eine Zeitlang beliebt – danach gab es nur noch alkoholfreie Kindergeburtstags-Melonenbowle.

Der geschnitzte Holzlöffel, so schön wie unpraktisch, ist Teil eines Salatbestecks und eines von zahlreichen Residuen der Osteuropa-Kontakte meiner Mutter. Es hing lange in unserer Küche; später habe ich versucht, es zu benutzen, doch für einen großen grünen Salat ist es zu klein und zu unhandlich. Der Massai-Löffel war Mitbringsel der Kilimandscharo-Reise einer Freundin und diente einige Jahre als Kaffeemaß, bevor er in die Schublade wanderte.

Seltsamerweise weiß ich nicht, von wem ich den „Patenlöffel“ bekam – ich habe weder offizielle noch inoffizielle Paten. Benutzt habe ich ihn allerdings viele Jahre lang – auch, weil alle anderen Löffel in unserem Haushalt mir nicht „mundeten“. (Ich habe zwar manchmal eine große Klappe, aber immer einen kleinen Mund.) Auch die Herkunft des „Konsum“-Löffels liegt im Dunkel; stammt er aus einer „Konsum“-Gaststätte? Für nicht Ostdeutsche und Nachgeborene: „Konsum“ – ausgesprochen „Kónsumm“ – ist eine Handelskette, deren Wurzeln in den proletarischen Genossenschaftsbewegungen des 19.Jahrhunderts liegt. In der DDR waren „Konsum“-Geschäfte so weit verbreitet, dass der Begriff bald für „Lebensmittelgeschäft“ im Allgemeinen stand.

Gesundheitlich etwas angeschlagen – doch mittlerweile auf dem Weg der Besserung – brauchte ich die Abendstunden einer knappen Woche für das Bild. Danach räumte ich die Löffel – die praktischen wie die schönen, die nützlichen wie die rätselhaften – wieder in ihre Schublade, dankbar für die Geschichten, die sie mir erzählt hatten.


Aus dem Küchenschrank

Die Dinge auf diesem Bild stammen alle aus dem Küchenschrank meiner Mutter. Die Streichhölzer werden wohl in der Gerümpelecke hinter der Schiebetür gleich vornan gelegen haben, die Tütchen in einer Blechdose. (Blechdosen sind auch so ein Museumsthema …)

Die Streichhölzer waren ein so vertrauter Gegenstand, dass es mir unglaublich scheint, die letzten ihrer Art vor 35 Jahren benutzt zu haben. Die Schachteln kommen nun in eine andere Schublade, zu ihren neueren Geschwistern. (Nein, ich rauche schon lange nicht mehr, aber Kerzen gehen immer.)

Auch das Tütchen Vanillin-Zucker sah noch recht frisch aus, im Gegensatz zum Natron. Im Kleingedruckten auf der Rückseite las ich den kryptische Aufdruck „Rg G 03/82“. Gedruckt März 1982? Oder haltbar bis? (So wie das Tütchen aussah, hätte es auch von 1962 stammen können.) Die Eierfarben waren zeitlos, auch wenn sie ähnlich alt aussahen. Im Innern fanden sich zwei Färbeblättchen; ich werde sie zu Ostern ausprobieren.

Gezeichnet ist das Ganze mit einer Mischung aus Aquarellfarbe und Markern – und zwar in einem niegelnagelneuen quadratischen „Zeta“ des amerikanischen Herstellers Stillman&Birn. Ich habe schon drei angefangene Zeichenbücher – am Ende wollte ich doch ein eigenes „Projektbuch“ haben, schön zum Blättern, mit Platz für etwas Text (hier habe ich ihn abgeschnitten) und mit festem, glattem Multimedia-Papier. Ich hoffe sehr, dass es auch weiterhin erhältlich sein wird – bei den wenigen deutschen Händlern, die die Marke führen, waren nur noch ein paar Reste in ungebräuchlichen Formaten vorrätig. Am Ende kaufte ich es dann beim ungeliebten amerikanischen Giganten – und das Private ist, einmal mehr, politisch geworden.


Intermezzo …

… in Travemünde, aus nicht-touristischen Gründen. Zwei Abende war ich nicht zum Zeichnen gekommen, dann, gestern Morgen, lächelte mich ein gestreifter Hotelsessel an. Es hätte auch Meerblick gegeben, Schiffe, einen Leuchtturm – der Sessel war gerade schlicht genug. Ich setzte ein paar Farbflächen auf das Papier, doch noch bevor das richtig trocken war, musste ich aufbrechen.

So brauchte ich selbst für ein so kleines Motiv noch einen zweiten Anlauf.

Das Hotel ist ein Hochhaus, so hoch, dass auf seinem Dach ein Leuchtfeuer blinkt. Gebaut ist in den 1970ern und steht mittlerweile unter Denkmalsschutz, auch wegen der Inneneinrichtung. Der Sessel sieht eher nach den 1990ern aus, anders als die Lobby mit ihrer etwas klaustrophobischen Pracht aus dunkel gebeiztem Holz, Kronleuchtern und Rauchglas (Rauchglas!).

So gingen die Tage 25 und 26 vorüber und hoffen darauf, dass es morgen wieder einen Blick in die Museumsschubladen geben wird.