Rückblick: Møn

Man könne den Kuchen nicht gleichzeitig haben und essen, sagt ein englisches Sprichwort. Tagebücher, gezeichnete wie geschriebene, hören auf dieses Gesetz: Wir können das Leben nur leben oder dokumentieren. Seltene Ausnahmen bestätigen die Regel: als der Kuchen Smørrebrød hieß, brachte ich einen ganzen heiteren Nachmittag damit zu, ihn zu zeichnen, nach und nach zu verspeisen, die Zeichnungen fertigzustellen und hier davon zu erzählen; dabei Kaffee und guten Grüntee zu trinken und die Atmosphäre der Kopenhagener Markthalle in mich aufzunehmen.

Meist kommt es anders. Wenn dieses Anderskommen gelingt, heißt das Ergebnis, wie auch in diesem Jahr, Rückblick.

Die Insel Møn erreichte ich am elften Tag der Reise, genau in der Mitte, und ich hatte zwei Pausentage eingeplant. Am ersten schlief ich den Ostwind aus und nahm mir Zeit für die Kirche von Elmelunde, neben der ich (ein sehr schönes) Quartier genommen hatte.

Für diese Zeichnung hatte ich vor Ort einige Skizzen angefangen; etwas Sichtbares wurde erst zu Hause daraus. Sie zeigt einen kleinen Ausschnitt der Freskomalerei, mit der die Kirche von Elmelunde ausgemalt ist. Die Malereien, mit denen die Gewölbedecken und z.T. die Wände dreier Kirchen aus Møn bemalt sind, erzählen biblische Geschichten wie eine Graphic Novel, halbabstrakt, comicartig, von Ornamenten und Spruchbändern begleitet. Fast immer kennt man bei mittelalterlicher Kunst die Namen der Schöpfer nicht; der Begriff „Elmelunde-Meister“ steht für eine Künstlerwerkstatt.

Die Szene mit dem Suppe kochenden Joseph gehört zur Geburtslegende Jesu: Während Maria das neugeborene göttliche Kind anbetet, kümmert sich Joseph um die materiellen Bedürfnisse der kleinen Familie. Er kostet den Brei von einem großen Holzlöffel, während er in der anderen Hand etwas hält, was vielleicht eine Art Blasebalg ist. Das Feuer unter dem Topf brennt in einer Feuerschale, hinter Joseph hängt seine Tasche am Haken, ikonographischer Hinweis auf die Wanderschaft.

Am zweiten Pausentag hatte ich mich hinreichend für eine Inseltour erholt. Ich radelte nach Møns Klint, zu den Kreidefelsen an der östlichen Spitze der Insel. Nachdem ich dort eine kleine Postkartenskizze gemacht hatte, wollte ich dem Liselund-Park, einem romantischen Landschaftspark in der Nähe einen Besuch abstatten. Was ich nicht bedacht hatte: es war Pfingstsonntag! So konnte ich die Dänen bei einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen, beim Picknicken beobachten. Von der Oma im Rollstuhl bis zu niedlichen kleinen Mädchen (alle mit Kleidchen) waren ganze Großfamilien auf dem Rasen versammelt. Männer trugen riesige Picknicktische, Frauen Kartons mit Smørrebrød, Kinder Wurfspiele und Schmetterlingsnetze. Manche transportierten das ganze Zeug mit der Sackkarre, manche mit dem Bollerwagen – wie schade, dass meine Zeichenfähigkeiten dafür nicht ausreichten.

Im Jydelejet-Tal über den Klippen war weniger Trubel, und beglückt setzte ich mich zwischen die Orchideen, die dort in großer Zahl an der Waldkante wachsen: Das wunderschöne und etwas geheimnisvolle Purpur-Knabenkraut. Während die Umrisszeichnung bereits vor Ort fertig geworden war, deutete ich die Farbskizze nur an und gab ihr zu Hause noch ein paar zusätzliche Farbschichten.


Mariä Reinigung 2

Nach dem zweiten Kerzenbild kam Maliki. Maliki4eyes, mit bürgerlichem Namen Marcella Trujillo Espinoza, ist eine chilenische Malerin und Grafikerin. Ich hatte auf Domestika (einer großen Online-Seminarplattform) ihren Kurs „Autobiografische Graphic Novel“ gebucht und hielt schon beim ersten Video den Atem an: Darauf hatte ich gewartet! Ihre Kombination aus magischem Realismus und einem handfesten Feminismus sprach mich genauso an wie die kluge, reflektierte und gründliche Art, in der sie ihre Informationen präsentierte.

So machte ich mich daran, das Thema in einer kleinen „Graphic Novel“ umzusetzen.

Ich versuchte, den Prozess der Entstehung dieser Idee zu visualisieren – der Spiegel im Spiegel im Spiegel. Mindestens drei der fünf Wochen brachte ich mit dieser Seite zu, mit der Blattaufteilung (dem „Storyboard“, wie man das nennt), mit Entwürfen für die Einzelbilder (das ging leider nicht ohne die Bildarchive des Internets) und ganz besonders mit dem Versuch eines freundlichen Selbstporträts (da half das Internet wenig).

Die Idee für dieses zweite Bild war zuerst da. Passenderweise wurde das Ganze – weitgehend – am Frauentag fertig, eine Bildmeditation über das Verhältnis von (weiblicher) Körperlichkeit und Spiritualität, von Körper und Seele, von Blut und Geist.

Ich habe bei diesem Projekt viel gelernt. Maliki sagt nicht umsonst in einem Nebensatz ihres Kurses, man solle eine Stunde wenigstens täglich zeichnen. Da ich das üblicherweise nicht tue, brauche ich um so länger für die einfachsten Motive, für ein kleines Selbstporträt, für die Haltung einer Hand, für einen Esel … Kreativität und Spontanität sind das eine, Übung und Fleiß das andere. Und es gibt noch ein drittes: ich will es Präzision nennen. Aus einem Gedanken ein Bild zu machen ist etwas anderes als diesen Gedanken in Worte zu fassen, doch es erfordert nicht weniger Genauigkeit.

Ich liebe Graphic Novels, und meine Schränke sind voll davon. Ich bewundere die Autoren und Autorinnen jetzt noch mehr als vorher. Bei diesem Projekt habe ich mich ganz bewusst an Malikis Stil orientiert, ich ahne jetzt – sehr entfernt – wie etwas aussehen könnte, das meiner Handschrift ähnelt.

Bevor ich damit beginne, werde ich mich an die tägliche Zeichenstunde erinnern.