Neuland mit Romanik

In Hann.Münden (noch eine Fachwerkstadt, vorgemerkt für einen weiteren Besuch) beginnt der zweite Teil der Tour: Werra und Fulda haben beide ihre Namen abgelegt und reisen unter einem neuen Richtung Nordsee: mein Weg folgt von nun an der Weser.

Was jetzt kommt, ist Neuland. Der Nordwesten Deutschlands war bis 1989 unerreichbar und danach, anders als viele Regionen Süddeutschlands, auf meiner inneren Landkarte kaum vorhanden. Auch um das zu ändern, habe ich diese Reise geplant.

Das erste, was mir begegnet, sind einige geöffnete Dorfkirchen voller zauberhaft naivem Bauernbarock. Die Überraschung kommt gegen Mittag: Kloster Bursfelde ist eine benediktinische Gründung aus dem 11.Jahrhundert. Ein hochromanischer Bruchsteinbau mit zwei Türmen, einem kleinen Westwerk und einem sehr langen Kirchenschiff. Das Schiff wurde nach der Säkularisation im 17.Jahrhundert geteilt, der Westteil diente als Stall und der Ostteil als Gemeindekirche. Im 19.Jahrhundert kam, wie an vielen Orten, das Umdenken; die romanische Gestalt wurde, soweit möglich, wiederhergestellt.

Der abgelegene Ort war im 15.Jahrhundert Zentrum einer geistigen Erneuerungsbewegung innerhalb des Benediktinischen Ordens – der „Bursfelder Kongregation“ gehörten zeitweilig über hundert Klöster an. Was wäre wohl geschehen, wenn Luther Benediktiner und nicht Augustiner geworden wäre?

Gezeichnet habe ich im Inneren, den Blick durch ein gotisches Innenfenster auf eine romanische Säule.

Ein paar Orte weiter liegt die Klosterkirche Lippoldsberg auf einem Hügel. Auch hier gibt es eine wechselvolle Geschichte, die mit einem Benediktinerinnenkloster begann; sie umschließt Reformation, Kriege, Brände und Wiederaufbau. Im Eingangsbereich, an der „Klosterpforte“, fand ich ein Schild, auf dem zu lesen war:

Information

Museum

Klosterladen

Kirchenbeitritt

Kirchenbeitritt! Ob schon jemand zur Pförtnerin statt „Ich hätte gern eine Apfelschorle“ „Ich würde gern der Kirche beitreten“ gesagt hat? Gibt es einen Notfallplan für diesen Moment?

Eines jedenfalls ist schon da: ein stilechter Türklopfer. Denn an eine Klosterpforte muss man natürlich anklopfen. Ein wunderschön geschmiedeter Löwen-Katzen-Menschenkopf, vermutlich eine moderne Arbeit.


Endlich Fachwerk

Ich liebe Fachwerk, und ich kann nicht müde werden, es zu zeichnen. Fachwerk ist die Form, die der Funktion auch dort folgt, wo Dekor hinzukommt, Fachwerk ist gebautes Mandala.

Um so unverständlicher, dass ich in der ersten Reisewoche kein einziges zu Papier gebracht habe, obwohl die Orte davon überquollen. Mal schien die Sonne aus der falschen Richtung, mal lockte ein Stück Romanik oder ich war schlichtweg zu müde.

Vorgestern, in Witzenhausen, stimmt endlich alles. Dabei hat der Tag mit einem Schreck und einer Verspätung begonnen: der Fahrradakku war am Morgen noch genau so leer gewesen wie am Abend nach einer langen Tour gegen den Wind. Also hieß es, mich in Geduld zu fassen, den wunderhübschen kleinen Kurbezirk von Bad Sooden zu genießen (die Zeichnung wird dennoch nicht fertig) und gegen zwölf endlich abzufahren.

Gegenüber einem besonders attraktiven Fachwerkhaus findet sich ein Sitzplatz im Café „Runde Ecke“. Im Gegensatz zu meinem Zeichenobjekt ist das Café unperfekt und unsaniert, ein alternativer Laden, der aussieht, als wäre er geradewegs aus den 90ern und einer Großstadt hierher versetzt worden. Hier bringe ich zwei glückliche Stunden zu, trinke Streuobstwiesenapfelschorle und Kaffee mit Hafermilch, während das „Sommermannsche Haus“ auf dem Papier allmählich Gestalt annimmt.


Im Frühling

Den Sonntag des langen Wochenendes vor dem 1. Mai verbringe ich in Eisenach. Ich treffe mich mit einer ortskundigen Freundin, die, um dem Gedränge in der Innenstadt oder auf der Wartburg zu entgehen, einen Spaziergang durch die Drachenschlucht vorschlägt. Nun ja: ich habe einmal gelesen, dass man in Japan in langer, nicht enden wollender Reihe den Fujiyama besteigt. Uns ergeht es ähnlich, wir quetschen uns mit hunderten anderen durch die bemooste Enge.

An eine Zeichnung ist nicht zu denken. Später am Tag haben wir mehr Glück: im weitläufigen Gelände von Schloß und Park Wilhelmsthal ist Platz für alle Spaziergänger (Spazierenden?), und auch die Zeichnerin kommt zu ihrem Recht.

Marstall und Kavaliershäuser von Schloss Wilhelmsthal

Am nächsten Tag fahre ich von Erfurt wieder auf den Werratal-Radweg zurück. Es trübt sich etwas ein, ein sanfter milder 1.Mai, in den hübschen Dörfern gibt es Bratwurst und Hoffeste; überall sind Familien unterwegs.

Im „Café Gisela“ (seit über dreißig Jahren eine Institution) gibt es zu Kaffee und dicken Tortenstücken einen riesigen Kirschbaum in schönster Blüte. Ich verzichte heldenhaft auf die Torte und nähre mich mit einer Zeichnung, bevor ich zu meinem Etappenziel Treffurt weiterfahre.


An der Grenze

Dass die Werra bis 1990 Grenzfluss war, hatte ich bei der Planung in Erinnerung gehabt, ohne darüber je näheres gewusst zu haben. Erst vor Ort wurde die Dimension dieses Umstandes fühlbar, ebenso die Folgen der Nachwende-Deindustrialisierung des Ostens.

In Vacha (gesprochen mit hartem „f“ wie „Fach“) ist beides mit Händen zu greifen. Während am rechten Werra-Ufer Hessen beginnt, führt der Weg über die Brücke in den thüringischen Ort. Anders als in den hübsch sanierten Dörfern und Städtchen, durch die wir bisher gekommen waren, regieren hier Verfall und Leerstand, der Lehm fällt aus den Gefachen der einst hübschen Häuser am Markt, Schaufenster sind mit Folie verklebt.

An der klassizistischen Stadtkirche finde ich überrascht dieses romanische Portal aus Bundsandstein aus der Gründungszeit des Ortes (der schon immer an Gebietsgrenzen lag.)

Am nächsten Tag fahre ich – von nun an allein unterwegs – nach Hessen hinein. Ich raste mit Blick auf das Kaliwerk Hattorf und habe beim Zeichnen genug Zeit, mich an die Nachwendejahre und den Abbau der ostdeutschen Industriestandorte zu erinnern.

Der Radweg mäandert mehrfach zwischen (ehemals) Ost und West und folgt damit den Grenzveräufen aus der Zeit der deutschen Kleinstaaterei. Die deutsche Teilung war das in dieser dicht besiedelten und vernetzten Region besonders schmerzhaft zu spüren gewesen.


Wieder unterwegs

Ich bin wieder unterwegs. Mit dem elektrisch unterstützten Fahrrad, wie im vergangenen Jahr. Dieses Mal war ich mutig und hatte eine Anreise von Schwerin nach Thüringen eingeplant. Das Rad samt Taschen ist schwer und unhandlich, die Wahl fiel auf den Regionalverkehr seinen Fahrradabteilen und tiefen Einstiegen …

Bis ich in Erfurt, beim dritten Umstieg, fassungslos vor vier steilen Stufen stand. Zu meiner Freude waren zwei freundliche schwäbische Herren zur Stelle, die das Rad mit vereinten Kräften in den Zug und wieder hinaus wuchteten. Vielen Dank!

Nach einer Nacht in Meiningen ging es auf den Werraradweg. Es war frisch und klar, und bis auf ein paar Umwege (ich sage nur: Abkürzung!) kamen meine Freundin und ich gut voran. Der Zeichnerin gingen die Augen über von Fachwerk und Kirchenburgen … Bei einer Rast in Schwallungen entstand dieses Bild.