Hinter Schloss und Riegel

Nach zwölf Gehtagen habe ich mein Ziel erreicht, ich bin in Rothenburg ob der Tauber angekommen. Die erste Zeichnung gilt – wie es sich für eine Pilgerin gehört – der Jakobskirche. Im Vergleich zum Trubel draußen ist es hier drinnen leer und still, dennoch ist es ein mehr musealer als spiritueller Ort. Was also zeichnen? Nach einigem Umsehen finde ich links neben dem Hauptaltar eine Sakramentsnische mit reichem Skulpturenschmuck aus Sandstein; teilweise ist die ehemals kräftig farbige Bemalung gut zu erkennen. Die zahlreichen Details fordern mich auf, mir mit dem Zeichnen Zeit zu lassen, und ich komme der Aufforderung gern nach: schließlich habe ich sie ja, die Zeit, zwei lange Tage nur für Rothenburg.

Die linke Seite, die lavierte Federzeichnung der Skulptur des Johannes, entsteht weitgehend vor Ort; die Bleistiftzeichnung auf der rechten Seite überarbeite ich später mit wasserlöslichen Graphitstiften und etwas Wasserfarbe.

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Sakramentstür in der Jakobskirche von Rothenburg o.d.Tauber.

Dass es sich um eine Sakramentsnische handelt und was genau das ist, muss ich mir auch erst erlesen. Hinter der knapp mannshohen Tür mit eindrucksvollem „Schloss und Riegel“ bewahrte man im Hochmittelalter die geweihten Hostien auf. Nach damaliger Vorstellung – die in der katholischen Kirche bis heute fortdauert – ist in der geweihten („konsekrierten“ Hostie) Christus leibhaftig anwesend. Diese Hostien werden nicht nur als besonders verehrungswürdig angesehen, sie bedürfen auch eines Schutzes vor jeder Form von Entweihung. Besonders in jener Zeit, in der die dicke Sakramentstür entstand, erzählte man sich gruslige Geschichten über Menschen, die Hostien entweihten und für ihre eigenen magischen oder finsteren Zwecke missbrauchten.

Beim Zeichnen – auch später zu Hause noch – habe ich viel Zeit, über die Eucharistie, die „Danksagung“ nachzudenken, über die Anwesenheit des Heiligen, über den Unterschied zwischen Körper und Leib, über Symbole und Zeichen … Das Bildprogramm konnte ich nur zum Teil entschlüsseln. Johannes – der wohl eine Art Hybrid aus Johannes dem Täufer und Johannes, dem Autor der Offenbarung, ist – verweist auf den kommenden Christus, der in Gestalt eines Lammes auf einer großen Hostie abgebildet ist. Die Frau auf der rechten Seite trägt eine – nicht mehr vollständig erhaltene – Krone, in der Hand hält sie einen Abendmahlskelch, in dem sich ebenfalls eine Hostie befindet. Ihr offenes Haar weist sie als Jungfrau aus. Von mir nicht abgebildet, steht ihr auf der anderen Seite der Nische eine Frau mit einem Salbgefäß gegenüber. Krone und offenes Haar könnten an Maria denken lassen, doch wäre die Darstellung mit Kelch und Hostie sehr ungewöhnlich. Vielleicht bekomme ich es noch heraus.


7 Kommentare on “Hinter Schloss und Riegel”

  1. Antje sagt:

    Schön, dass Du in mehr als einer Hinsicht eine Reise machst auf Deiner Pilgertour. Und auf Deinem Blog kann man immer mal was lernen, das finde ich auch gut. Viel Spaß weiterhin in Rothenburg!

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    • Danke! Leider ist meine Reise schon wieder ein paar Wochen her – ich arbeite immer noch das eine oder andere im Tagebuch nach; und dieses jähr hatte ich den Ehrgeiz, die Bilder in der richtigen Reihenfolge des Weges zu veröffentlichen.

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      • Antje sagt:

        Ach so. Nichts für ungut! Ich ergänze auch immer erst die Notizen hinterher, weil ich dazu vor Ort meistens nichts komme.

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  2. kesh sagt:

    Hallo Annette, Sie machen außergewöhnliche, atmosphärische Skizzen! Wir haben Interesse Motive von Ihnen in unserem ev. Gemeindebrief (in Köln) zu zeigen. Wie können wir in Kontakt kommen? Danke, vlg und eine gute Zeit auf den Pilgerwegen, Markus

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  3. kesh sagt:

    Hier ein Link von mir…https://keshflow.wordpress.com/
    Ganz anders, aber auch „bewohntes Gelände“…vlg Markus

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